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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 13.1922

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Siebentes und Achtes Heft
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Walden, Herwarth: Kunstdämmerung
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Walden, Herwarth: Mutschwer
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Liebmann, Kurt: Liebespaar
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https://doi.org/10.11588/diglit.47210#0144
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Erinnerung muss es geben. An Telegraphen-
drähte. Oder an Tische. Oder an Mando-
linen. Mandolinen erinnern ausserdem an
die Tonkunst. Funicoli, funicola. Ganz zu
schweigen von Santa Lucia. Auch bei
Weingläsern kann man sich etwas denken.
Und die Leute, die sich Bilder flüchtig an-
sehen und darüber gewissenlos schreiben,
finden, dass die Kunst wieder natürlich wird.
Bald wird der Fabrikant wieder in seiner
Fabrik sitzen, bildlich natürlich, wenn auch
nicht natürlich bildlich. Der Kritiker wird
seinen Geist bald an den ausgesparten Stellen
zwischen den Ölfarben im „Bild des Kritikers“
wiedererkennen. Die Damen werden bald
wieder mit Gesicht aber ohne Beine als
Kniestück glänzen. Kurz: der Expressionis-
mus ist tot und alles atmet auf. Endlich
kann man wieder denken und die Augen
schliessen.
Aber die Kunst ist nicht tot und sie kann
nicht mehr getötet werden. Aller Augen
sind geöffnet worden. Man sieht den Un-
sinn des Sinnvollen. Man sieht das Un-
sinnliche des Übersinnlichen. Man sieht.
Und wenn auch die letzten paar tausend
Blinden einen neuen Verein der Kunst-
freunde gründen. Zum Wiederaufbau mit
Lagerbeständen. Die Kunst lebt und bildet
Leben.
Nach dreizehn Jahren haben es die Gehirne
der Zeitgenossen begriffen. Statt Logik
Alogik. Statt Metrik Rhythmik. Statt Dis-
position Komposition. Das sind die Kunst-
mittel.
Man kann die Kunst nicht ins Leben tragen-
Man muss aber die Kunstmittel im Leben
an wen den, um das Leben zu gestalten.
Diese Anwendung der Kunstmittel ist zu
erlernen, indem nämlich nachgewiesen wer-
den kann, wo sie nicht angewandt sind.
Wie jede natürliche Erscheinung ist auch
jede künstlerische Erscheinung gesetzmässig.
Nämlich die Erscheinung. Also das optische
Phänomen. Das Gesetzmässige ist dadurch
akademisch, das heisst formelhaft geworden,
weil man das Kunstwerk nicht gesetzmässig
formte, sondern das Gesetz nach irgend
welchen Kunstwerken formulierte. Da das
Erkennen des Gesetzmässigen eine schöpfe-
rische Leistung ist, wird von den Aufneh-
menden immer wieder der Fehler begangen,
die schöpferische Leistung zu individuali-
sieren, sie also als Formel darzustellen.

Es wird Leistung mit Leistung verglichen,
also subjektiv falsch gewertet, statt das
Typische aller künstlerischen Leistungen zu
erkennen. Kunst ist Erfüllung, nicht Reiz.
Kunst ist Tat, nicht Wille. Kunst ist Ge-
staltung, nicht Darstellung.
Oeffnet die Augen, dass Ihr künstlerisch
sehen und künstlerisch leben lernt.
Herwarth Walden

Mutschwer
Komm meine Amsel aus dem Getrabe der
staubigen Landstrasse
Schwer bläht der Stein sich den vielen
Füssen engegen
Schlappend umschlottert ihn erdmüder
Wanderer
Nimm mich ins Gekling deines zagenden
Schwebens
Sterne verwolken
Wolken senken
Senken
Sinken
Singt das Herz über der Landstrasse
Senkrecht Tropfen auf Tropfen
Tropfen gesunken auf Tropfen
Deine Flügel zwitschern auf zum Abglanz
des toten Sternes
0 meine Amsel über zerweinten Wolken
Steinumgangen
Weiter und weiter weitet sich weit der Weg
Herwarth Walden

Liebespaar
Weben
die Knöchel
Flötenbeben
schwebschwingen
Schaumrosa
schauern
Tausonne
Trillerblumen
die hüftenden Knospen
kichern die Spitzen
Hauttasten
schwingwippen
drehen
umwinden
schnellen
umpfauen

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