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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 12
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Walden, Herwarth: Die lebende Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0178
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Die lebende Kunst
Herwarth Walden
Die Kunstkritiker sind wieder seelenvergnügt.
Sie bilden sich ein, da sie schon nicht bilden
können, wieder mit der Seele sehen zu
dürfen, wie einst im Mai. Mit hornbebrillter
Seele. Wie es das kurzsichtige Auge der Zeit
fordert. Man macht sich seit einigen Jahren
das tragischeVergnügen, den Expressionismus
für tot zu erklären. Das tun besonders die
Herren, die sich um ihn von seiner
Geburt bis zu seinem zeitungshaften Tod
nie gekümmert haben oder sich um ein
so minderwertiges Lebewesen nicht haben
kümmern wollen. Kümmerlicher ist aber
dieser Lobgesang auf den Tod. Man hat
sich allerseits einen logisch lächerlichen
Begriff „Neue Sachlichkeit" zurechtabge-
schrieben. Die Künstler, die gegen die
Kritik auch in der öffentlichen Anerkennung
durchgesetzt sind, werden einfach auf das
Konto der neuen Sachlichkeit gebucht und
der Begriff des Expressionismus wird schlicht
auf die Maler angewandt, die sich selbst bei
der Kunstkritik nicht mehr recht halten
können. Wie sollen diese Verlegenheits-
kritiker etwas über Bildanschauung schreiben
können, wenn sie sich keine Bilder an-
schauen und nur darüber literarisch faseln.
Oder sogar politisch. Und da zufällig einige
Kunsthändler Impressionisten auf Lager
haben und sie abstoben wollen, bekommt
diese kaufmännische Angelegenheit durch
die Hornbrillen einen höheren, wenn auch
keinen optischen Sinn. „Sie ist weder Mode
noch Mache, diese Auferstehung der Im-
pressionisten, sie ist die Erfüllung einer
echten, wirklichen Sehnsucht des wieder-
erstarkten Bürgertums.“ Auf deutsch: einige
Bürger haben wieder Geld übrig, um sich

teure Bilder von französischen Impressionisten
zu kaufen. Deutsche Impressionisten nebst
Professor Liebermann haben schwankenden
Kurs mit fallender Tendenz und Expressio-
nisten sind auf der Börse nicht zugelassen.
Gewiß, das Bürgertum ersehnt eine Auf-
erstehung. Was aber haben Bilder mit
kapitalistischen Wünschen in einer anti-
kapitalistischen Epoche zu tun.
Dabei ist die Sache mit der Kunst höchst
einfach. Mit der Kunst, die man zur Unter-
scheidung von der Illustration Expressio-
nismus genannt hat. Es kann nur immer
wiederholt werden: Kunst ist die sinnliche
Gestaltung optischer oder akustischer Phäno-
mene. Bilder müssen gesehen und nicht
gedacht oder gefühlt werden. Mit Geist,
mit dem Gedächtnis der Sinne, kann man
nichts schaffen, gestalten. Mit dem Gedächtnis
kann man nur wiederholen, nicht holen.
Dasselbe gilt von der Seele, dem Gedächtnis
der Empfindungen. Ohne Sehen und Hören
gibt es keine Kunst. Selbstverständlich gibt
es auch eine Kunst des Tastens, Riechens
und Schmeckens. Darüber werden die
Denker noch mehr den Kopf schütteln,
ohne daß etwas aus ihrem Gedächtnis fällt.
Auf den Gebieten haben sie überhaupt keine
Erfahrung. Fühlen ist bei ihnen Literatur,
Riechen eine überflüssige Begleiterscheinung
der Frauen und Schmecken deutsche Küche.
Beim Sehen und Hören können sie sich
etwas denken. Ihre Gedanken sind ihnen
wichtiger als die Tat der Sinne. Diese
Mißachtung der Sinne hatte ihren logischen
Erfolg. Erzeugt wurde die unsinnliche und
unsinnige Kultur. Der Kampf der Geister
wird durch Kriegsmaschinen, Aberglaubens-
zwang und soziale Unterdrückung geführt.
Man beruft sich auf das Recht des Geistes,
also des Gedächtnisses seiner zufälligen Er-
fahrungen, statt der Macht der Sinne gerecht

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