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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 12
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Walden, Herwarth: Die lebende Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0179
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zu werden. Diese großen Geister erklären
alles, aber schaffen nichts. Sie verhindern
die Menschheit am Zusammenschluß durch
die Nationen, sie verhindern das physische
Dasein durch metaphysische Konfessionen,
sie verhindern das Dasein überhaupt durch
die Einteilung der Menschheit nach dem
Eigentumsbegriff. Jeder Zwang wird sittliche
Freiheit genannt. Der Zwang zum Zu-
sammenschluß nur mit Gleichsprachigen,
mit Gleichleichtgläubigen oder gar der Zwang
zur Anerkennung des Rechtes auf Eigentum.
Das ist besonders unsittlich. Wenn Menschen
gegen Besitzende aufstehen, sie in der Ruhe
des Sitzens stören, wird dieser Autstand
auch von den Geistigen bekämpft. Denen
ist es peinlich, zwar nicht von ihrem Sitz,
aber aus ihrem Schlaf aufgerüttelt zu werden.
Man kann aber nicht immer stehen, nament-
lich wenn man gezwungen ist, den Besitz
der Anderen zu sehen. Dieses Sehen macht
eben besessen. Dieses Sehen ist die Tätig-
keit der lebenden Sinne, die ein sinnliches
Dasein zu führen wünschen und die das
Recht, auch das sittliche, auf das Dasein
haben. Da sie da sind. Sehen ist Leben.
Kinder wollen alles nur besehen, nicht be-
denken. Auch die Menschen, soweit sie
nicht Berufsdenker sind, wollen alles sehen.
Länder, Menschen, Theater, Kunst. Oder ist
jemand, selbst ein Denker, schon auf den
Gedanken gekommen, ans Meer oder in das
Gebirge oder in die Städte zu reisen,
um Meer, Gebirge oder Städte zu denken?
Oder geht jemand ins Theater, um Schau-
spiele zu denken? Nur die unglücklichen
Bilder muß man sich ansehen, um dabei
etwas zu denken 1 Dabei steht die Kunst im
höchsten Ansehen. Sie hat aber noch nicht
im höchsten Andenken gestanden. Das
Andenken ist stets nur der Ersatz des ver-
lorenen oder versäumten Ansehens. Denken

ein Ersatz des Sehens. Leben ist Sehen,
Kunst seine sinnliche Gestaltung.
Die Erkenntnis der sinnlichen Anschauung
der Erde nennen wir Expressionismus. Die
sinnfällige und sinnenvolle Gestaltung ex-
pressionistische Kunst. Wir würden es vor-
ziehen, sie einfach Kunst zu nennen, wenn
man nicht das Kunst nennen würde, was
keine Kunst ist.
Kunstwerke sind typisch. Individualität ist
ein Privatvergnügen, das dem Individuum
selbst am meisten Spaß macht. Alle übrigen
Lebewesen der Natur, organische und un-
organische, geben sich typisch. Nur die
Menschen denken sich eine Individualität
aus. Doch plötzlich machen ihnen die
Sinne klar, daß sie alle gleich sind. Wenn
nämlich die Sinne ihr sinnliches Recht ver-
langen. Vor Hunger und Liebe, vor Leben
und Tod bricht die Individualität, diese
Zufallserscheinung von Erfahrungen zu-
sammen. Plötzlich sind alle Menschen gleich.
Kunst als gestaltetes Gleichnis sinnlichen
Lebens kann also nur typisch sein.
Davon lassen sich die Kunstkritiker nichts
träumen. Sie sind vollauf mit dem Denken
beschäftigt. Dafür haben sie eine Virtuosität
in der Anwendung der Sinne. Sie sehen
mit dem Geschmack und hören mit dem
Gefühl. Und stellen so die Sinnesverwirrung
der Künstler fest. Die Künstler, die mit
Seele und Zunge Kunstwerke machen, sollten
lieber Kunstkritiker werden. Kunstwerke
werden nämlich nicht von Gott, sondern
von der Hand geschaffen, mit offenen Augen
und offenen Ohren. Künstler sein heißt
sinnliche Erlebnisse zu einem Organismus
zusammenstellen zu können. Der Orga-
nismus ist die Wirkung. Die seelische
Wirkung, wie in der Natur, eine subjektive
Deutung.

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