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lichen Phantasie kann aber zu festen tiefgreifenden Formen führen, wenn sie
nicht im inneren seelischen Leben, in dem ganzen Daseinsgefühl des Men*
schen wurzelt. So sollte schon bei jener Einreihung der Architektur in
eine so bescheidene Stellung ihre Erklärung aus dem Zweck heraus nicht
mehr genügen, wenn man nicht den »Zweck« weiter und ganz unbe*
schränkt faßt.

Wie jede andere Kunst, muß die Architektur im ganzen Sein des Menschen
wurzeln, in all dem, wodurch er seinen eigenen Wert, seine Beziehung zur
Welt fühlt. Bei der ihrer Natur nach bedingten Abstraktheit ihrer Formen,
wegen deren man sie zuweilen in irreführender Weise mit der Musik ver*
gleicht, muß dieser anschauungshafte Kern, von dem ihre Entstehung aus*
geht, besonders deutlich und stark sein. Sie kann nicht oder nur schwer wie
die Musik lyrisch die wechselnden Stimmungen ihres Schöpfers geben. Was
in Stein als Denkmal menschlichen Geistes für Jahrhunderte in die Höhe
ragt, muß auf einer breiten und starken Grundlage des Empfindens beruhen.
Ist wohl ein Einzelner der geistige Schöpfer, so braucht doch ein Bauwerk
zu seiner Entstehung viele Hände und viele materielle Mittel, und um diese
zum Regen zu bringen, muß der Architekt das Bewußtsein und die Kenntnis
aller tieferen Empfindungen und Anschauungen in sich tragen, die die Ge-
samtheit beherrschen, für welche er bauen will, freilich nicht allein die ephe*
meren, das was man den »Zeitgeist« nennt, sondern vielmehr jene noch
schlummernden latenten Seelenkräfte, des Volkes, die, in Glauben, Hoffnung
und Wünschen verhüllt, ans Licht streben und im höheren Sinne »bauen«
wollen. Dies ist schon dazu nötig, um die Aufgaben zu lösen, welche schein*
bar nur auf dem Zweck beruhen, da schon dabei nicht die praktische For«
derung, sondern die formende Phantasie die Architektur erzeugt. So zeigt es
sich, daß es etwas ganz Anderes als die Zweckgebundenheit ist, was den
Willen des Baukünstlers ausmacht, und so erklärt es sich, daß dieser Wille
über und jenseits des eigentlich Praktischen liegt und daß das Höchste,
wonach sein Wille strebt, in den Bauten liegt, deren praktischer Zweck ein
geringfügiger oder gar keiner ist.

In jeder großartigen Kulturepoche ist es der jenseitig über das Erdenhafte
gerichtete Bau, zu dem alle schauen und auf den sich der Bauwille der Zeit
richtet. Die heutigen enggebundenen Begriffe über das Bauen erhalten, so
gesehen, ihre vollständige Umkehrung. Der Dom, die Kathedrale über der
alten Stadt, die Pagode über den Hütten der Inder, der ungeheuereTempeh
bezirk im Rechteck der chinesischen Stadt und die Akropolis über den

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