Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
die Kirche folgt diesem Vorgang. Sie dezentralisiert, zersplittert sich und
sieht das Seelenhirtentum in der Missionstätigkeit. Fromme Vereine mit
Bethäusern, die in den Stadtteilen verstreut sind, ebenso verstreute kleine
Kirchen — sie zeigen, wie auch die Kirche konsequent sich der allgemeinen
Erscheinung des Zerfließens anschließt. Selbst der repräsentationsstolze
Klerus der katholischen Kirche folgt ihr. Die großen alten Dome bleiben
voll Leben, wie es die Tradition gebietet. Sonst aber verläuft die Seelen*
pflege in denselben Formen und kein neuer Dom e"+steht.

Die religiöse Konfession hat anscheinend nicht mehr die alte Kraft.
Es treten keine Bekenner, keine Kämpfer für sie auf und, was einstmals
große Bewegungen beseelte, das scheint heute, der Dogmen entkleidet,
zum einzelnen zurückgezogen und in einer völligen Wandlung begriffen
zu sein.

Aber ein Glaube ist sicher noch da. Es ist nicht denkbar, daß Millionen
von Menschen, ganz dem Materialismus verfallen, dahinleben, ohne zu
wissen, wofür sie da sind. Es muß etwas in jedes Menschen Brust leben,
das ihn über das Zeitliche hinaushebt und das ihn die Gemeinschaft mit
seiner Mitwelt, seiner Nation, allen Menschen und der ganzen Welt fiihlen
läßt. Wo liegt das? Zerfließt das auch so oder ist etwas, etwas Neues in alle
Menschen hineingeflossen und wartet auf seine Auferstehung, auf seine
strahlende Verklärung und Kristallisierung in herrlichen Bauwerken? Ohne
Religion gibt es keine wahre Kultur, keine Kunst. Und sollen wir, in Teib
strömungen zerrissen, dahinvegetieren, ohne uns die wahre Schönheit des
Lebens zu schaffen?

»Die Schritte der Religion sind groß, aber langsam. Sie braucht Jahr*
tausende zu einem Schritt. Der zum Fortschritt aufgehobene Fuß schwebt
schon sich senkend in der Luft; wann wird sie ihn niedersetzen?« (Gustav
Theodor Fechner in »Tagesansicht«.)

Es gibt ein Wort, dem arm und reich folgt, das überall nachklingt und
das gleichsam ein Christentum in neuer Form verheißt: der soziale Gedanke.
Das Gefühl, irgendwie an dem Wohl der Menschheit mithelfen zu müssen,
irgendwie für sich und damit auch für andere sein Seelenheil zu erringen
und sich eins, solidarisch mit allen Menschen zu fühlen, — es lebt, wenig*
stens schlummert es in allen. Der Sozialismus im unpolitischen, überpoli*
tischen Sinne, fern von jeder Fferrschaftsform als die einfache schlichte Be*
ziehung der Menschen zu einander, schreitet über die Kluft der sich befeh*

59
 
Annotationen