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Taut, Bruno
Die Stadtkrone — Jena, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.29957#0067
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Wenn es nun wirklich der soziale Gedanke ist, der ans Licht strebt und
noch unter der Oberfläche vergraben ruht, ist es dann überhaupt möglich,
etwas Latentes zu gestalten? Die Antwort lautet: die Kathedralen, die Riesen*
tempel sind auch einmal entstanden, einmal waren sie noch nicht da und
einmal wurde ihr Gedanke hier und da, immer in einem einzelnen Archb
tektenkopf geboren. Was heute prangend wie selbstverständlich dasteht,
einmal wurde es als Idee zum ersten Male aufgeworfen, geplant, als der
Wunsch dazu nur unklar im unbestimmten Sehen der Volksseele ver?
schlossen lag. Doch wird man sagen: da waren kleine Anfänge, schüchterne
Versuche, aus denen nach und nach der große Dom herauswuchs, als Folge
einer Tradition, die immer und immer das Gleiche bildete, bis es dann in
kühner Größe als Resultat langer Übung sich ergab. Ich meine, es muß
schon in den kleinsten Anfängen die Idee, dieTendenz dagewesen sein, da
es doch Menschenwerk ist. Freilich war das letzte Ergebnis dann unbegreib
lich, so daß heute im Volksmunde der Inder die Erbauung der Wunder*
tempel den Göttern zugeschrieben wird, obgleich selbst für ganz große An<-
lagen wie AngkorWat (Abb. 23) der Name des Architekten (Diwakara)
überliefert ist. Haben wir nicht vielleicht solche Anfänge ? Aus dem Nichts
wächst nichts. Und Architektur entsteht nur, wenn sie von einer Handlung
getragen ist. Es ist nicht möglich, einen bloßen Gedanken ohne einen Hand*
lungsvorgang Architektur werden zu lassen, weshalb alle modernen Denk*
malsversuche zur Unfruchtbarkeit verurteilt sind, da nichts an und mit
ihnen geschieht und sie schon in der Absichf auf äußerlicher Nachahmung
mißverstandener alter Werke beruhen. Der religiöse Vorgang im Tem«
pel, das Opfer, die Messe u. dgl. war nötig, um die großen Bauten zu
schaffen.

Wenn wir im sozialen Gedanken die Möglichkeit der Stadtkrone sehen,
so müssen wir untersuchen, welcher Art die Handlungen sind, in denen sich
dieser Gedanke schon heute kund tut. Was will die Volksmasse heute, was
tut sie? Gibt es nicht Veranstaltungen, in denen sich in verhüllter Form
wenigstens die Sehnsucht der Menge äußert? Gehen wir zu den Orten, zu
denen sie sich begibt, um abseits von materiellen Wünschen ihre Muße zu
verbringen, und wir kommen dann zu den Vergnügungsstätten, vom Kino
bis zum Theater aufwärts, oder zu Volks* und Versammlungshäusern, zu
denen sie ein politischer Drang oder der Wunsch, die Gemeinschaft zu
empfinden, hinzieht. Es sind also zwei Triebfedern da, das Vergnügen und
der Gemeinschaftsdrang, die schon jetzt zahlreicheBauten ins Leben gerufen

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