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Wir beginnen unsere Betrachtung dort, wo die Malerei noch in einem
fruchtbaren Bunde mit der Baukunst steht. Das Glasfenster einer goti*
schen Kathedrale mag als Beispiel dienen. Noch nichts ist hier von der Isolie*
rung einer Kunst, noch nichts von einer Trennung des großen Wollens in be*
sondere Fertigkeiten. Das Auge mag beseligt auf diesem einen so reichen, so
köstlichen Fenster ruhen — es gehört zum Tiefsten dieses Genusses stets das
Bewußtsein, daß neben diesem Juwele viele andere gleich schöne, gleich
unerschöpfliche leuchten, und daß wieder sie alle tief gefaßt sind in dem
starken, energischen und großen Körper des Raumes.nicht nur der Fenster*
pfeiler mit ihren knetenden Profilen, des herrlich in die Glaswunder schwin«
genden kräftigen Maßwerks, der Gurte und der Kappen, der Statuen an den
Säulenbündeln und der Schlußsteine hoch oben, nein, über den Kreis des
Sichtbaren hinaus fühlen wir die Einheit dieser zarten und starken, dieser
innigen und glühenden riesigen Glastafeln mit den Wimpergen und Fialen,
den Rosen und Knollen der Portale und der Fronten, fühlen wir die Einheit
bis hinauf zu den freien aufgelösten Spitzen des T urmes. Ja, wenn von diesem
in die Luft steigenden Formenwerk durch das Läuten der Glocken die Archh
tektur zur Musik sich verwandelt, ist diese Einheit von den leuchtenden
Glasbildern des Fensters, die gemeinsam mit dem Dufte des Weihrauchs
den reinen, geläuterten Raum bilden, bis zu den läuternden Tönen hoch oben
in uns lebendig.

Vieles wäre noch zu sagen, um den hohen Reichtum des gotischen Glas-
gemäldes zu schildern. Aber hier soll es in seiner Einheit mit dem Bau nur
am Anfange der Reihe erscheinen als die noch in Einheit gesammelte Quelle
des Schönen. Beschreibe ichnun in den folgenden Beispielen der allmählich
sinkenden Kunst die Stellen der Verarmung, so erscheint ja von selbst da*
hinter immer wieder das gotische Glasfenster, dessen Fülle hierdurch nur
immer reicher wirken kann. Wichtig scheint es mir nur, auf eines ausdrück*
lich hinzuweisen, daß nämlich die gotische Epocheneben der alles Irdische
in der kristallischen Reinheit bunten Glases verzehrenden Glut der Fenster>-
riesen die stille, heitere, menschennahe Erzählung in den Zeichnungen und
den Pinselmalereien der Bücher kannte. Nicht aber kannte die gotische Blüte
eine Vermischung des Monumentalen mit dem Intimen, des Heiligen mit
dem Menschlichen, des Kosmischen mit dem Anekdotischen.

Erst wenn wir beides in unser Bewußtsein aufnehmen, fühlen wir den vollen
Reichtum dieser Zeit, die über alle Theorien und Schlagworte erhaben ist.
Sie ist ebensosehr realistisch, wie sie unrealistisch ist, und ihr Geheimnis

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