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Teske, Hans
Thomasin von Zerclaere: der Mann und sein Werk — Heidelberg: Winter, 1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.47780#0115
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6. Die neue Aufgabe.

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der schwache Pilgrim hatte am Boden schleifen lassen. Auch Thomasin
kann lange Zeit nicht an Dichtung und Dichten denken. Und als er im
Herbst 1215 sich in seine Kammer zurückzieht und seine Feder zurecht-
schneidet, da weiß er, daß er wahrlich nicht äurek kurövile schreiben,
nicht ein Lied dichten wird, das al ckvr verlta tröicka maran kann, ja
daß er nicht einmal eine Frauenzucht oder eine Ritterlehre wie seine
ersten Werke sich vornehmen darf. Die Arbeit, die ihm dieses Mal zu
leisten anfgegeben ist, muß ganz anderer Art sein.
Abschnitt 6.
Die neue Aufgabe.
Bald nach 1200 hat Thomasin von Zerclaere Ritterlehre und
Frauenzucht geschrieben, im Herbst 1215 beginnt er den Welschen Gast.
Um 1200 ist er ein just der Schule entwachsener Knabe, 1215 ein
wenn auch noch junger, so doch bemerkenswert reifer Mann. Mehr
als 10 Jahre liegen zwischen seinen dichterischen Versuchen, zehn in-
haltsschwere Jahre für die abendländische Welt, für das Reich, für
Italien und Friaul, für Thomasin selbst. Zwei Ereignisse vor allem
müssen einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben. Das eine ist der
Ketzerkreuzzug, das andere die Kaiserkrönung in Rom.
An dem Kampfe gegen die Katharer in Südfrankreich hat Thomasin
nicht selbst teilgenommen. Aber er hat sehen und erleben müssen, wie
inmitten der schönen Welt der höfischen Kultur, in der auch er sich gern
bewegt, die Giftpflanze religiösen Irrtums und Abfalls aufgeschossen
ist. Längst hat der Kult der Minne an den Höfen der Herren und Fürsten
fast religiöse Formen angenommen"^, ist das Christentum dagegen in
konventioneller Beachtung vorgeschriebener Bräuche erstarrt und zum
Bildungsmittel verwässert. Im Zusammenhang damit und gleich-
zeitig im Gegensatz dazu hat sich eine ganz andere unhöfische und un-
christliche Weltanschauung ausgebreitet, deren Bekenner sich nicht nur
gegen das kirchliche Priestertum, gegen den Episkopat wenden, sondern
vielmehr die Grundlagen des Christentums selbst in Frage stellen^.
Wanderprediger durchziehen Südfrankreich, Nordspanien, Oberitalien
und verkünden einen schroffen Dualismus und gesteigerte Weltfeind-
schaft. Als „Reine" oder „Vollkommene" bezeichnen sie sich selbst,
Joseph Auglade (Aum. 353) 76.
Hauck (Anm. 161) IV° 887f.; zum folgenden auch Hermann Thelve, Die
Ketzerverfolgungen im 11. und 12. Jahrh. (Abh. z. mittl. u. neueren Gesch. 48).
Berlin u. Leipzig 1913, 60ff.
 
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