Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Thausing, Moritz
Dürer: Geschichte seines Lebens und seiner Kunst — Leipzig, 1876

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4925#0337
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Lucretia.

3"

München. Die Zeichnungen befinden fich in der Albertina in Wien.
Einmal die ganze Figur, etwa ein Viertel der Lebensgröfse und bis
auf einen fchmalen Linnenftreifen vollftändig nackt; fie fteht faft ganz
von vorne gefehen auf einer viereckigen Platte, den Kopf ein wenig
zur Seite geneigt, und hat fich mit der Rechten den Dolch in die
Bruft geftofsen. Der wohlgebaute, völlige Frauenkörper ift, offenbar
nach der Natur, ungemein forgfältig und plaftifch gezeichnet, und zwar
auf grün grundiertem Papiere mit der Pinfelfpitze in Schwarz und
Weifs; aus demfelben Farbentopfe und genau fo, wie die trefflichen
gleichzeitigen Studien zur Himmelfahrt Mariens. Die Geftalt ift aus
dem dunkel angelegten Hintergrunde bis in das reine Bleiweifs der
höchften Lichter immer fchraffierend mit vollendeter Meifterfchaft
modelliert; die Wirkung der Beleuchtung ift im Helldunkel und in
den Reflexen aufs feinfte wiedergegeben. Dagegen ift der Diftanz-
punkt fo nahe gewählt, dafs die Füfse ftark von oben, Nafe und Kinn
wieder ftark von unten gefehen werden '). Für den zuftofsenden rechten
Arm mit der einwärts gekehrten Fauft an dem Dolche ergab fich daraus
eine recht ungefchickte Verkürzung, noch in der Daraufficht. Dürer
verbefferte fich daher fogleich, indem er den rechten Arm auf einem
anderen Blatte in derfelben Sammlung noch einmal mit dem Pinfel
zeichnete, und zwar in halber Naturgröfse, krampfhaft gefpannt, ein
wenig von unten gefehen und mit auswärts gerichteter Fauft einen
langen Dolch mehr nach abwärts richtend.

Mit Hilfe diefes letzteren Studiums erfcheint denn auch die Arm-
haltung der Lucretia in dem Münchener Gemälde abgeändert, welches
Dürer nach jener erfteren Zeichnung ausgeführt hat. Dasfelbe ift wohl
identifch mit demjenigen, welches Van Mander2) im Privatbefitze zu
Middelburg gefehen hat. ■ Die nackte Figur fteht hier lebensgrofs am
Fufse ihrer Bettftatt, die auf gut bürgerlich mit allem nöthigen aus-
geftattet ift; mit rothem Bettuch, blauem Polfter u. dergl. Die Kör-
perftellung, die dürftige Kopfbildung und der aufwärts gewandte Blick
entfprechen genau jener Zeichnung, wie auch die fonftigen Vorzüge
und Mängel der Figur. Die Malweife ift ungemein plaftifch, doch in
den Schatten grau, in den Lichtern zu weifs; dazu der Localton des
Fleifches kalt röthlich, fo dafs die wohlgerundeten Formen etwas
Metallenes, Unruhiges haben. Das Ungefällige daran wird durch die

1) Daneben befitzt diefelbe Sammlung
noch eine alte, gequälte Copie auf grauem
Grunde ohne Bezeichnung.

2) Schilderboeck ed. 1618, fol. 132:
»Daer is oock van zyn conftighe handt een

feer wel ghedaen en fuyver Roomfche
Lucretia, en is te fien by den conftlief-
dighen Heer Melchior Wijntgis tot Mid-
delburgh«.
 
Annotationen