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Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,1): Der Künstler und seine Werke: Abth. 1 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47068#0393
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Die Erithraea. Jeremias.

feierlichem Platze, allezeit geöffnet und selbst in der Nacht, dank
der darüber angebrachten Lampe, benutzbar, seine Weisheit dar-
bietet. Ihr Blick haftet in ruhigem Sinnen an einer durch den
Zeigefinger der Linken bezeichneten Stelle, mit welcher sie eine
andere am Ende des Bandes vergleichen will. Schon ist sie im
Begriff, die Seiten umzuschlagen. In der Ecke dunkelt es, der eine
Knabe zündet die Lampe an, müde reibt sich der andere das Auge.
Es ist die ihres Weges gewisse, zu hohem Berufe er-
koreneWeisheit, der nur noch die letzte, schon nahe
Erleuchtung fehlt.
In das Bereich dieser kontemplativen Naturen gehört, obgleich
durch das Melancholische seines Temperamentes von ihnen unter-
schieden, auch jener Mann, in dem man, wie oben gesagt ward, den
Typus des Denkers überhaupt erkennt:

Jeremias.
Gleich den Figuren der Stichkappen ein Wanderer, denn er
trägt eine Art Pilgertracht: einen dicken Kittel, Schuhe und Strümpfe,
und hat, immer zum Aufbruch bereit, den Rock über die Kniee
heraufgezogen, ist der gewaltige Mann mit dem mächtigen, breiten
Kopf, dem vollen, lastenden Haar und dem langfliessenden ergrauten
Bart, bei kurzer Rast in tiefstes Nachdenken versunken. Der Körper
befindet sich in voller Ruhe: die Beine sind gekreuzt, unthätig
ruht die linke Hand, die Rechte stützt — ein schon von der
früheren Kunst in der Spanischen Kapelle und Ghibertis erster
Bronzethüre gebrachtes, das Denken kennzeichnendes Motiv •— das
von sorgenvollen Gedanken beschwerte Haupt, das in seiner Regungs-
losigkeit einem Felsgebilde gleicht. Nur das verborgenste Innere, in
welches sich der nach unten gesenkte Blick wendet, ist von geistigem
Leben, dessen Spuren sich in den Stirnfalten zeigen, bewegt.
Es ist der Zustand geistiger Entrücktheit, während welcher
der Leib willenlos wird, nicht etwa der der Apathie, auch nicht
der eines scharfen Nachdenkens, des Ergründens eines Problemes
— ein schauendes Sinnen, das die Augen ihrer Sehkraft nach aussen
beraubt, nicht, wie man auch angenommen hat, ein Blicken hinab
auf den Altar oder auf die zur Messe versammelte Gemeinde.
Wohl erhebt sich dieses Sinnen über dem dunklen Hintergründe
des Grames, aber das Sinnen, nicht der Gram, ist das Entscheidende.
Jenes tiefste Leid, aus dem sich die Gewissheit der zukünftigen
 
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