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Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,1): Der Künstler und seine Werke: Abth. 1 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47068#0395
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368

Jeremias. Jesajas.

Erlösung emporringt, kommt weniger in dem Propheten, als in
den beiden Frauengestalten zum Ausdruck, die hier statt der Knaben
erscheinen. Man hat die von Schmerz überwältigte Frau als die
Witwe Zion gedeutet, von der es in dem ersten Verse der Lamen-
tationes heisst: „quomodo sedet sola Civitas plena populo: facta
est quasi vidua domina gentium“, die andere, in brütendem Schmerz
versunkene, als Rahel, die um ihre Kinder klagt, oder als Samaria.
Mir scheint vielmehr die letztere, deren dunkler über den Kopf
gezogener Mantel den Eindruck einer Trauertracht hervorbringt
und die, wie es in den Klageliedern heisst, sitzt, als Witwe gekenn-
zeichnet, also als Jerusalem gedacht zu sein, indessen der Künstler
bei der anderen jüngeren an eine der Jungfrauen gedacht haben
dürfte, welche „ihre Häupter zur Erde hängen“ (2, 10) und „jämmer-
lich sehen“ (1,4). Auf Beide ist das Wort zu beziehen: „Euch
sage ich Allen, die ihr vorüber geht: schauet doch und sehet, ob
irgend ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat.
Denn der Herr hat mich voll Jammers gemacht am Tage seines
grimmigen Zorns“ (1, 12). Den direkten Hinweis auf die Lamen-
tationes, die in den Tenebrae der Charwoche in der Kapelle ge-
sungen wurden, bringt der unter dem Fuss der jüngeren Frau an-
gebrachte Zettel, auf welchem, wie Steinmann bemerkte, „Alef“ zu
lesen ist, d. h. die Buchstaben des hebräischen Alphabetes, die jeder
Strophe vorangesetzt wurden.
Tiefere Regionen sind es, in welche uns diese Gestalt hinab-
zusteigen zwingt, dorthin, wo wir als Quell höchster Er-
ic enntniss das Leiden finden, wo die Geisteskraft durch die
Gefühlsmacht bedingt wird, wo auch der Schöpferdrang Michel-
angelos selbst seine Beseelung gewann.

II. Das Eintreten der Erkenntniss.
In Jesajas,
einer nervös feinfühligen, träumerischer Versenkung fähigen Natur,
hat der Künstler das erste Aufleuchten der Erkenntniss
aus tiefem Nachdenken zur Anschauung gebracht. Sein
Äusseres ist das eines bartlosen Mannes in mittlerem Alter mit
langer, zugespitzter Nase, ausdrucksvollem Munde, kurzem scharfem
Kinn und lockigem, bewegtem, früh ergrautem Haar. Die Stirn und
die Muskulatur zwischen den Augenbrauen verräth die Gewohnheit
 
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