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Thode, Henry; Thode, Henry [Hrsg.]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,1): Der Künstler und seine Werke: Abth. 1 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47068#0434
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Die Charakterbildung.

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sehen, die fast portraitmässig und zum Theil bizarr wirken, darf
befremden. Bei den häuslich sittenbildlichen Szenen, die eine Fülle
merkwürdiger Physiognomieen, vornehmlich der Männer, enthalten,
erklärt es sich wohl aus dem Vorwurf und der dort untergeordneten
Rolle, die diesen Figuren an weniger beachteter Stelle zugewiesen
ist, nicht so leicht bei den dominirenden Verkündigern der Er-
kenntniss 1
Gewiss war der Wunsch, Mannigfaltigkeit und Abwechslung in
die Erscheinungen dieses Geistesolympes zu bringen, bestimmend,
aber man stelle sich vor, wie ein Grieche des fünften oder auch
vierten Jahrhunderts solche Denker dargestellt haben würde, um die
Macht des modernen Verlangens nach Offenbarung individuellen
geistigen Wesens in der körperlichen Erscheinung zu gewahren.
Denn diese Macht ist es, welche zu Gunsten der Charakteristik die
Schönheit preisgiebt, statt das Charakteristische so abzuschwächen,
dass es mit der Schönheit ausgesöhnt wird. Der Hesekiel, Daniel,
Joel, Moses, die Cumaea! — verglichen dem modernen Geiste,
welcher die Sixtinische Decke schuf, erscheint der Schöpfer der
Aposteltypen im Abendmahl zu Mailand, Leonardo, wie ein Grieche!
Eben diese Deutung desCharakteristischen aus dem Aus-
drucksverlangen heraus giebt uns nun aber die Erklärung für jenes
Übermässige überhaupt, das wir in den Malereien der Decke in Kon-
flikt mit den Gesetzmässigkeiten der Raumbildung und Flächenwir-
kung treten und mehr und mehr dieselben, wenn nicht sprengen,
so doch lockern sehen. Die inneren Gewalten des Wollens,
des Fühlens, des Denkens, von dem Meister auf seine
Geschöpfe übertragen, bauen sich die gewaltige Leib-
lichkeit. Diese ist die Sichtbarwerdung des Inneren, der Seele.
Und ein Bedenken stellt sich ein: wenn mächtiges Wollen seine
Veranschaulichung in starken Körperformen und -bewegungen er-
hält, gilt dies auch vom Denken? Hier zeigt sich ein Wider-
spruch, den uns verständlich zu machen wir nochmals, die Pro-
pheten und Sibyllen im Auge, den Stil des Plastikers zu beachten
genöthigt sind.
Sicher bezeichnen diese Gestalten, in denen, als dem Ein-
drucksvollsten und sich am meisten dem Blick Darbietenden, das
Werk der Sixtinischen Decke gipfelt, auch in rein formalem Sinne,
ganz abgesehen vom geistigen Gehalte, einen Höhepunkt im Schaffen
Michelangelos überhaupt, ja sind, allgemein stilistisch betrachtet,
 
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