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Thode, Henry; Thode, Henry [Hrsg.]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,2): Der Künstler und seine Werke: Abth. 2 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47069#0054
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454

Die Nacht. Der Abend.

Florenz, Uffizien s. Verz. 219 und in Oxford, Verz. 428.) In
einer Stellung, welche die Spuren der vorangegangenen, sie
marternden Unruhe trägt, hat sie der Schlaf überwältigt. Das
schmerzliche Sinnen ist in schwere Träume übergegangen, aus denen
emporfahrend sie eine andere Lage für die gequälten Glieder
suchen wird. Attribute sind ihr beigegeben: auf dem Haupte die
Mondsichel mit dem Abendstern, unter dem aufgestützten Fusse
ein Bündel Mohn, neben dem die Eule hockt, unter der linken
Schulter, wohl als Symbol der Traumgesichte, eine Maske, aus
deren Augenhöhlen und geöffnetem Munde das Grauen starrt. Nicht
mit menschlichem Maasse dürfen die Verhältnisse ihrer Leibesformen
gemessen werden: sie ist ein Kind der Gaia. Wie es, freilich
andere Gedanken damit verbindend, Michelangelo in einem Sonette
ausgesprochen hat:
Wenn Phöbus seine Strahlenarme nicht
Um dieser Erde kalte, feuchte Kugel
Ausbreitend schlingt, so nennt, was von der Sonne
Nicht mehr umfangen wird, die Menge : Nacht.
Die ist so schwach, dass eine kleine Fackel,
Die Einer ansteckt dorten, wo sie leuchtet,
Des Lebens sie beraubt, und ist so zart,
Dass Feuerstrahl am Zunder sie zerreisst.
Und muss man dennoch sie ein Etwas nennen,
Nenn’ ich sie Kind des Phöbus und der Erde,
Denn Jener zeugt den Schatten, Diese wahrt ihn.
Doch wie es sei, es irret, wer sie lobet:
Sie lebt, die düstre Witwe, so in Ängsten,
Dass selbst ein Glühwurm sie bekämpfen kann.
(G. S. 204. F. LXXV1I.)
Eine Abspannung der Willenskraft, ein Eintreten der Ruhe
nach grossem Tagewerk ist in dem,, Ab end“, der bezeichnender
Weise als älterer Mann gebildet ist, geschildert. Die Glieder strecken
sich aus,- schlaff ruhen die Hände, ermüdet senkt sich das Haupt.
Die Leidenschaft hat tiefer Schwermuth Platz gemacht; einer
 
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