45§
Die Madonna.
der Magnifici ihre Aufstellung gefunden hat, ihm an, ja sie wirkt auf
uns wie eben dessen Mutter, Gaia, die Erde selbst, so übermensch-
lich ist ihre gewaltige Erscheinung, so kraftstrotzend der Knabe,
der von ihrer Brust die Nahrung empfängt. Der christliche Mythus
ist in einen kosmischen übergegangen. Wir fühlen uns dem Ur-
sprung und den Quellen des Lebens nahe. Diesem Kinde, das,
rittlings auf dem Bein der Mutter sitzend, so feurig siegreich seine
Rechte geltend macht, scheint die Herrschaft über die Welt
nicht als einem leidenden, sondern als einem mit Gewalt die
Gegner bezwingenden Gotte bestimmt. Er wird in das Leben
hinausstürmen, wie ein aus seiner Bergesgrotte sich losreissen-
der, junger, ungestümer Strom. Welchem endlichen Schicksale
entgegen? Der verschleierte, schwermüthige Blick der Mutter
verräth es: jenem tragischen Untergang, der über alle Sonnen-
helden verhängt ist, den Baldur und Achilles und Siegfried und
Rustem erlitten.
Es ist wunderbar zu sehen, wie Michelangelo in diesem über
alle Worte erhabenen Gebilde die in seinem ersten Jugendwerke
der „Madonna an der Treppe“ angeschlagenen Töne zu einer mäch-
tigsten Melodie formt. In seiner Brügger Gruppe, in den Reliefs
und Skizzen der Jahre 1500 bis 1506 (s. o. S. 161 ff.) hatte er, sei
es in der zarteren jungfräulichen Bildung der Madonna, sei es in
den Motiven der beiden Kinder, sich seinen Zeitgenossen genähert,
mit deren Schöpfungen selbst die heilige Familie des Agnolo Doni,
so kühn und originell Komposition und Formensprache auch sind,
noch in einer gewissen Beziehung steht. Nur in einer sorgsameren
Studie, dem gleichfalls schon erwähnten grossartigen farbigen Ent-
würfe der ihr Kind nährenden Maria in der Casa Buonarroti (Verz.63),
gewahren wir eine erste Vorarbeit gleichsam zu der Medicistatue.
Dass die in Florenz erfassten und variirten Motive zur Zeit der
Beschäftigung mit den Sixtinischen Malereien weiterwirkten und
die hier entstehenden Familienbilder der Stichkappen und Lünetten
zur Behandlung des Vorwurfes anreizten, zeigen uns Zeichnungen.
Maria, wie sie den Knaben zwischen den Beinen hält, erscheint
in einer Studie des Louvre (Verz. 463); wie Mutter und Kind
sich zärtlich umschlingen, sehen wir auf Blättern in Windsor
(Verz. 5 5°) und im British Museum (Verz. 314), Jesus im Schoosse
der Jungfrau auf solchen der Sammlung Heseltine in London
(Verz. 373) und im Louvre (Verz. 472), das Spiel der Kinder
Die Madonna.
der Magnifici ihre Aufstellung gefunden hat, ihm an, ja sie wirkt auf
uns wie eben dessen Mutter, Gaia, die Erde selbst, so übermensch-
lich ist ihre gewaltige Erscheinung, so kraftstrotzend der Knabe,
der von ihrer Brust die Nahrung empfängt. Der christliche Mythus
ist in einen kosmischen übergegangen. Wir fühlen uns dem Ur-
sprung und den Quellen des Lebens nahe. Diesem Kinde, das,
rittlings auf dem Bein der Mutter sitzend, so feurig siegreich seine
Rechte geltend macht, scheint die Herrschaft über die Welt
nicht als einem leidenden, sondern als einem mit Gewalt die
Gegner bezwingenden Gotte bestimmt. Er wird in das Leben
hinausstürmen, wie ein aus seiner Bergesgrotte sich losreissen-
der, junger, ungestümer Strom. Welchem endlichen Schicksale
entgegen? Der verschleierte, schwermüthige Blick der Mutter
verräth es: jenem tragischen Untergang, der über alle Sonnen-
helden verhängt ist, den Baldur und Achilles und Siegfried und
Rustem erlitten.
Es ist wunderbar zu sehen, wie Michelangelo in diesem über
alle Worte erhabenen Gebilde die in seinem ersten Jugendwerke
der „Madonna an der Treppe“ angeschlagenen Töne zu einer mäch-
tigsten Melodie formt. In seiner Brügger Gruppe, in den Reliefs
und Skizzen der Jahre 1500 bis 1506 (s. o. S. 161 ff.) hatte er, sei
es in der zarteren jungfräulichen Bildung der Madonna, sei es in
den Motiven der beiden Kinder, sich seinen Zeitgenossen genähert,
mit deren Schöpfungen selbst die heilige Familie des Agnolo Doni,
so kühn und originell Komposition und Formensprache auch sind,
noch in einer gewissen Beziehung steht. Nur in einer sorgsameren
Studie, dem gleichfalls schon erwähnten grossartigen farbigen Ent-
würfe der ihr Kind nährenden Maria in der Casa Buonarroti (Verz.63),
gewahren wir eine erste Vorarbeit gleichsam zu der Medicistatue.
Dass die in Florenz erfassten und variirten Motive zur Zeit der
Beschäftigung mit den Sixtinischen Malereien weiterwirkten und
die hier entstehenden Familienbilder der Stichkappen und Lünetten
zur Behandlung des Vorwurfes anreizten, zeigen uns Zeichnungen.
Maria, wie sie den Knaben zwischen den Beinen hält, erscheint
in einer Studie des Louvre (Verz. 463); wie Mutter und Kind
sich zärtlich umschlingen, sehen wir auf Blättern in Windsor
(Verz. 5 5°) und im British Museum (Verz. 314), Jesus im Schoosse
der Jungfrau auf solchen der Sammlung Heseltine in London
(Verz. 373) und im Louvre (Verz. 472), das Spiel der Kinder