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Die Madonna.
in London (Verz. 321), wo Maria ganz die Erscheinung einer Si-
bylle hat.
Es war für das Juliusdenkmal, dass Michelangelo die Madonna
in feierlicherer, göttlicherer Auffassung plante, und zwar in stehen-
der Haltung. Und an diese Idee knüpfte er in den ersten Ent-
würfen der Medicigräber an. Deren Umgestaltung brachte es mit
sich, dass er die Figur zu einer sitzenden machte und hierbei jenes
ihm vertraute Motiv, das zwischen den Beinen der Mutter stehende
Kind, wieder verwandte. Dann aber gab er dieses auf und
wählte dafür das bedeutungsvollere des an der mütterlichen Brust
trinkenden Knaben, wobei er direkt zwei in früherer Zeit ent-
standene Studien benutzte (Louvre, Verz. 478 und Wien, Albertina,
Verz. 526), deren eine, die im Louvre, nach der Natur angefertigt
worden war.
Aus einer Durchdringung also der beiden Vorstellungen, der
schlicht menschlichen und der mythisch göttlichen, entstand
die Medicimadonna. Die Einheit ergab sich in der Wahl einer
Handlung, welche das Wesen der Mutterschaft offenbart, wie keine
andere, und die, ein natürlichster Akt, doch zugleich das Symbol
heiliger, unsterblicher Liebeskraft ist. Muss es uns nicht als tief
bedeutungsvoll für die Erkenntniss der Probleme christlicher Kunst
erscheinen, dass nicht der Maler, sondern der Bildhauer das alte
naive Motiv der „Madonna del latte“, seinem vollkommensten
Madonnenbilde zu Grunde legte? Der Erde entrückt, in Wolken
schreitend, durfte Raphael die Jungfrau darstellen, ihr und des
Kindes strahlender Blick genügte, die Gottheit zu offenbaren —
das Metaphysische siegt über das Physische. Das christliche Dogma
wird zur Erscheinung. Der Plastiker, in seinen Ausdrucksmöglich-
keiten beschränkt, an die Materie gefesselt, erweitert, indem er sich
bescheidet, das Walten der Natur in der Mutterschaft zu verdeut-
lichen , das Gebiet christlichen Glaubens zu dem allgemeinsten
Menschenthumes. Nicht das christliche Mysterium, sondern das
Mysterium des Lebens verkündet er. Diese Göttin mit dem jungen
Heros ist nicht die Jungfrau Maria, sondern die Natur! Und als
solche hätte sie wohl in den gleichen Rahmen, wie die Allegorieen
der Tageszeiten gepasst.
Benedetto Varchi meinte, Michelangelo sei zu dem „Wunder-
werke“ durch folgende Verse Dantes inspirirt worden:
Die Madonna.
in London (Verz. 321), wo Maria ganz die Erscheinung einer Si-
bylle hat.
Es war für das Juliusdenkmal, dass Michelangelo die Madonna
in feierlicherer, göttlicherer Auffassung plante, und zwar in stehen-
der Haltung. Und an diese Idee knüpfte er in den ersten Ent-
würfen der Medicigräber an. Deren Umgestaltung brachte es mit
sich, dass er die Figur zu einer sitzenden machte und hierbei jenes
ihm vertraute Motiv, das zwischen den Beinen der Mutter stehende
Kind, wieder verwandte. Dann aber gab er dieses auf und
wählte dafür das bedeutungsvollere des an der mütterlichen Brust
trinkenden Knaben, wobei er direkt zwei in früherer Zeit ent-
standene Studien benutzte (Louvre, Verz. 478 und Wien, Albertina,
Verz. 526), deren eine, die im Louvre, nach der Natur angefertigt
worden war.
Aus einer Durchdringung also der beiden Vorstellungen, der
schlicht menschlichen und der mythisch göttlichen, entstand
die Medicimadonna. Die Einheit ergab sich in der Wahl einer
Handlung, welche das Wesen der Mutterschaft offenbart, wie keine
andere, und die, ein natürlichster Akt, doch zugleich das Symbol
heiliger, unsterblicher Liebeskraft ist. Muss es uns nicht als tief
bedeutungsvoll für die Erkenntniss der Probleme christlicher Kunst
erscheinen, dass nicht der Maler, sondern der Bildhauer das alte
naive Motiv der „Madonna del latte“, seinem vollkommensten
Madonnenbilde zu Grunde legte? Der Erde entrückt, in Wolken
schreitend, durfte Raphael die Jungfrau darstellen, ihr und des
Kindes strahlender Blick genügte, die Gottheit zu offenbaren —
das Metaphysische siegt über das Physische. Das christliche Dogma
wird zur Erscheinung. Der Plastiker, in seinen Ausdrucksmöglich-
keiten beschränkt, an die Materie gefesselt, erweitert, indem er sich
bescheidet, das Walten der Natur in der Mutterschaft zu verdeut-
lichen , das Gebiet christlichen Glaubens zu dem allgemeinsten
Menschenthumes. Nicht das christliche Mysterium, sondern das
Mysterium des Lebens verkündet er. Diese Göttin mit dem jungen
Heros ist nicht die Jungfrau Maria, sondern die Natur! Und als
solche hätte sie wohl in den gleichen Rahmen, wie die Allegorieen
der Tageszeiten gepasst.
Benedetto Varchi meinte, Michelangelo sei zu dem „Wunder-
werke“ durch folgende Verse Dantes inspirirt worden: