Christus im Limbus. Die Pieta in Viterbo.
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Bilde, der, eilenden, sehnenden Schrittes, einen leichten Kreuzesstab
mit Fähnchen in der Hand, aus dunkler Tiefe nach vorwärts
schreitet und, vorgebeugten Oberleibes und Kopfes, die Rechte nach
zwei sich ihm aus der Unterwelt entgegenhebenden Gestalten aus-
streckt. Ist es nicht, als böte sie sich, in ihrer auch hier zugleich
schirmenden und emporziehenden Bewegung uns Allen, der ganzen
in dunklen Tiefen sich sehnenden Menschheit dar? Als ruhe auf
uns der mitleidende, sich herabsenkende Blick?
Der erste Gedanke zu dieser herrlichen Figur, die wiederum
mit unvergleichlicher Kunst einen seelischen Vorgang durch blosse
Leibesbewegung auf das Sicherste veranschaulicht, ist in einer eili-
gen Röthelskizze der Casa Buonarroti gegeben (Verz. 35). Hier
hält die Rechte den Kreuzesstab, und die Linke fasst mit einer ener-
gischen, emporziehenden Geste nach dem Knieenden.
Die Pieta in Viterbo.
Von überwältigender, Schauer erregender Grösse ist die von
Sebastiano mit einer stimmungsvollen Mondscheinlandschaft um-
gebene einsame Gruppe des Bildes in Viterbo. Zu den Füssen der
sitzenden Mutter, flach am Boden auf dem Leichentuche aus-
gestreckt, den Kopf gegen ein Kissen angelehnt, ruht, ohne An-
zeichen der vorangegangenen Schmerzen, in keuscher, jugendlicher
Schönheit der Leichnam des Herrn. Maria, den Unterkörper von
einem weiten Mantel umgeben, auf dem Kopf ein schlichtes Tuch,
krampft, um die Verzweiflung zu fesseln, die Hände betend zu-
sammen und richtet Haupt und Blick in schmerzvoller Frage zum
Himmel auf — ein Motiv, das der Meister, nur den Ausdruck ver-
ändernd, dann in seiner Rahel wieder verwerthete. In ihrer antiken
Grösse, feierlich und geheimnissvoll, wirkt sie auf uns wie eine
Sibylle, die aus einer Schauenden zu einer Erfahrenden geworden.
Mit welcher Kühnheit ist in dem unvermittelten Aufeinanderstossen
der Horizontale und der Vertikale das schneidend Unversöhnliche
ihres Erlebens zum Ausdruck gebracht!
Eben diese Anordnung verräth, dass das Werk in einer ge-
wissen Beziehung zu einer Komposition Raphaels steht, die in dem
bekannten Stiche des Marcantonio Raimondi wiedergegeben ist.
(B. 34.) Auch hier liegt Christus waagrecht, aber auf einer Er-
höhung, vor Maria, welche, die nach unten ausgestreckten Hände
schmerzlich öffnend, nach oben schaut.
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Bilde, der, eilenden, sehnenden Schrittes, einen leichten Kreuzesstab
mit Fähnchen in der Hand, aus dunkler Tiefe nach vorwärts
schreitet und, vorgebeugten Oberleibes und Kopfes, die Rechte nach
zwei sich ihm aus der Unterwelt entgegenhebenden Gestalten aus-
streckt. Ist es nicht, als böte sie sich, in ihrer auch hier zugleich
schirmenden und emporziehenden Bewegung uns Allen, der ganzen
in dunklen Tiefen sich sehnenden Menschheit dar? Als ruhe auf
uns der mitleidende, sich herabsenkende Blick?
Der erste Gedanke zu dieser herrlichen Figur, die wiederum
mit unvergleichlicher Kunst einen seelischen Vorgang durch blosse
Leibesbewegung auf das Sicherste veranschaulicht, ist in einer eili-
gen Röthelskizze der Casa Buonarroti gegeben (Verz. 35). Hier
hält die Rechte den Kreuzesstab, und die Linke fasst mit einer ener-
gischen, emporziehenden Geste nach dem Knieenden.
Die Pieta in Viterbo.
Von überwältigender, Schauer erregender Grösse ist die von
Sebastiano mit einer stimmungsvollen Mondscheinlandschaft um-
gebene einsame Gruppe des Bildes in Viterbo. Zu den Füssen der
sitzenden Mutter, flach am Boden auf dem Leichentuche aus-
gestreckt, den Kopf gegen ein Kissen angelehnt, ruht, ohne An-
zeichen der vorangegangenen Schmerzen, in keuscher, jugendlicher
Schönheit der Leichnam des Herrn. Maria, den Unterkörper von
einem weiten Mantel umgeben, auf dem Kopf ein schlichtes Tuch,
krampft, um die Verzweiflung zu fesseln, die Hände betend zu-
sammen und richtet Haupt und Blick in schmerzvoller Frage zum
Himmel auf — ein Motiv, das der Meister, nur den Ausdruck ver-
ändernd, dann in seiner Rahel wieder verwerthete. In ihrer antiken
Grösse, feierlich und geheimnissvoll, wirkt sie auf uns wie eine
Sibylle, die aus einer Schauenden zu einer Erfahrenden geworden.
Mit welcher Kühnheit ist in dem unvermittelten Aufeinanderstossen
der Horizontale und der Vertikale das schneidend Unversöhnliche
ihres Erlebens zum Ausdruck gebracht!
Eben diese Anordnung verräth, dass das Werk in einer ge-
wissen Beziehung zu einer Komposition Raphaels steht, die in dem
bekannten Stiche des Marcantonio Raimondi wiedergegeben ist.
(B. 34.) Auch hier liegt Christus waagrecht, aber auf einer Er-
höhung, vor Maria, welche, die nach unten ausgestreckten Hände
schmerzlich öffnend, nach oben schaut.