Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,2): Der Künstler und seine Werke: Abth. 2 — Berlin: Grote, 1912

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.47069#0160
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
560

Die heilige Familie mit Johannes und Stifter.

das grosse Geheimniss, wie hervorbrechende Knospe im Thau des
ersten Morgenroths, erscheint.“
Im Kinde und im Schlaf göttliche Unschuld und Heiligkeit, die
nur schweigend zu verehren ist — das war des Meisters Meinung,
der das genrehafte Motiv mit tiefem Sinne durchdrang. In dem
Symbol verrinnender Zeit, dem Stundenglas, welch’ eine die Seele
mit Schauer erfüllende Andeutung auf die Zukunft! So wird das
Bild zu einer Traumweissagung auf die Pieta — man möchte es
eine Pietädarstellung aus der Kindheit Christi nennen! —
Von anderen Werken Sebastianos könnten nur noch zwei An-
spruch darauf erheben, als von Michelangelo inspirirt betrachtet zu
werden. Das eine, die Madonna in der Kathedrale von Burgos, hat
lange für ein Werk des grossen Meisters gegolten. Die Darstellung
— Maria, in ganzer Figur sichtbar, umfasst sitzend das neben ihr
auf der Bank stehende Christkind, welches die Weltkugel trägt und
segnet, und hält mit beiden Händen, es leicht verhüllend, einen
Schleier — verräth Michelangelos Art nicht, wohl aber wird man
an diese durch das andere Gemälde gemahnt:
Die heilige Familie mit Johannes demTäufer und
dem Stifter in London.
Die gesammte Anordnung der Gestalten ist freilich typisch
venezianisch, aber für die Madonna in ihrer königlichen Würde
und grossartigen Bewegung, wie sie, dem Stifter sich zuwendend,
mit weitausgreifendem, schützenden Arme ihn umfängt, ohne ihre
Unnahbarkeit einzubüssen, wird eine Meisterskizze maassgebend
gewesen sein. Und auch das Kind war in dieser wohl enthalten,
denn es gleicht, wenn auch durch Sebastiano der kraftvollen Mus-
kulatur beraubt, dem Knaben der Medicimadonna. Bewahrheitet sich
die vielfach ausgesprochene Vermuthung, dass dies Bild jenes für
Borgherini 1517 begonnene Gemälde ist, so wäre jeder Zweifel an
der Mitarbeiterschaft Michelangelos behoben.
Welch’ eine Anzahl bedeutendster, bisher fast gänzlich un-
beachteter Entwürfe des Meisters in den Bildern seines Schützlings
enthalten sind, hat sich erwiesen. Sie enthüllen uns, und zwar, weil
sie für Gemälde bestimmt waren, deutlicher als die problematische
Erscheinung der Statue in S Maria sopra Minerva, die künstlerische
 
Annotationen