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Thode, Henry; Thode, Henry [Editor]
Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3,2): Der Künstler und seine Werke: Abth. 2 — Berlin: Grote, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.47069#0213
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Die Vernichtung des künstlerischen Wollens.

zweitens war die Gestaltenwelt, die er so, abseits von den all-
gemein verfolgten Bahnen, zum Staunen seiner Zeit und aller kom-
menden Zeiten ins Leben rief, in wie überwältigender Erhabenheit
sie auch seinen Alles übersteigenden Geist verkündete, — diese
Gestaltenwelt war nicht von einer reinen, ungetrübten Schönheit,
sondern eine in jedem Sinne übermässige! Das unermessliche Aus-
drucksbedürfniss der modernen Seele, die Grösse der Verhältnisse
gewaltsam steigernd und alle Formen in Bewegung setzend, durch-
brach die Schranken der Harmonie in den Proportionen und Be-
wegungen des Leibes — des Leibes, in dessen vollkommener Dar-
stellung der Plastiker doch sein Ein und Alles erkannte!
Was er geschaffen, wir sagten es schon, gehört nicht dem hellen
Tageslicht griechischer Schönheit und nicht der Nacht christlichen
Empfindens, sondern einer zwischen Beidem Licht und Dunkel ver-
bindenden Dämmerung an. Man weiss, bis zu welch unheimlichen
Dimensionen alle Erscheinungen in einer solchen anwachsen! —
Es kam bis zur Vernichtung des künstlerischen Wollens. Vom
Tage sich abwendend, suchte die ungestillte Sehnsucht der Seele
die Nacht. Die zwei Gemälde, die er noch in der Capella Paolina
geschaffen, zeigen, dass er bei ihrer Ausführung nicht einem künst-
lerischen Triebe, sondern nur einem äusseren Befehle gehorchte.
 
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