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Die Bekehrung Sauls.
einer Entfesselung stürmender Leidenschaftlichkeit. Soeben ist
die Himmelsvision eingetreten: in hellem Lichtschein stürzt sich
Christus, umrauscht von einer Jünglingsschaar flügelloser Engel, aus
den Höhen herab. Geblendet ist Paulus von seinem Rosse, das,
die Mitte der Darstellung einnehmend, scheu geworden nach hinten
galoppirt, zu Boden gesunken. Ein Begleiter eilt ihn aufzuheben.
Die Anderen links und rechts fahren mit Schreckensgebärden
durch einander. Drei Krieger fliehen links nach hinten, ein anderer
eilt rechts nach vorne heraus.
Kommt man von dem Jüngsten Gericht her, in dessen Stil und
Geist das Werk durchaus gehalten ist, wird man leicht ungerecht
gegen dieses, da es nichts Neues zu sagen scheint. Bei näherer
Betrachtung aber erweist es sich als so reich an gewaltigen Einzel-
motiven und feurigem Leben, dass man in ein sprachloses Staunen
über des Meisters unerschöpfte Lust an immer neuer Verherrlichung
des menschlichen Leibes geräth. In dem grossen Engelreigen, der
wundervolle Erscheinungen ekstatischen Sphärendaseins in sich
schliesst, knüpfte er, die Vorstellung zu äusserster Freiheit ent-
faltend, an seine dereinstigen Visionen des von Knaben auf seinem
Schöpferfluge begleiteten Gottes an.
Ein Stück des Kartons hat sich im Neapeler Museum erhalten:
er enthält die drei nach hinten eilenden Krieger. (Verz. 554. Studie
hierzu in der Albertina zu Wien, Verz. 529.)
Nur Wenige haben die Fresken selbst gesehen. Da deren Be-
urtheilung fast durchweg auf die alten Stiche von J. B. de Cavalleriis,
Beatrizet und Enea Vico sich begründete, ist es begreiflich, dass
sich nicht ganz zutreffende Meinungen bilden konnten. Jene Repro-
duktionen übertreiben die Muskulatur der Körper sehr; solch
peinlichen Eindruck bringen die Originale nicht hervor. Aber deren
Erhaltung ist freilich eine so ungenügende, dass ohne eine starke
Bethätigung der Phantasie das Grosse in diesen Schöpfungen zu
würdigen unmöglich ist. Dass in ihnen reine formale Momente
sich vordrängen, also die Virtuosität wenn auch nicht die Herr-
schaft, so doch eine bedeutende Rolle gewinnt, wird sich nicht
leugnen lassen. Die Schuld hieran tragen die Vorwürfe. Da, wo
sie des Künstlers Gefühl inspiriren, wie in der Engelschaar, offen-
bart er sogleich seine Tiefe und Gewalt.
Unter den Himmelsgeistern gewahrt man einen, der in ver-
zückter Anbetung, unbekümmert um den Vorgang, mit erhobenen
Die Bekehrung Sauls.
einer Entfesselung stürmender Leidenschaftlichkeit. Soeben ist
die Himmelsvision eingetreten: in hellem Lichtschein stürzt sich
Christus, umrauscht von einer Jünglingsschaar flügelloser Engel, aus
den Höhen herab. Geblendet ist Paulus von seinem Rosse, das,
die Mitte der Darstellung einnehmend, scheu geworden nach hinten
galoppirt, zu Boden gesunken. Ein Begleiter eilt ihn aufzuheben.
Die Anderen links und rechts fahren mit Schreckensgebärden
durch einander. Drei Krieger fliehen links nach hinten, ein anderer
eilt rechts nach vorne heraus.
Kommt man von dem Jüngsten Gericht her, in dessen Stil und
Geist das Werk durchaus gehalten ist, wird man leicht ungerecht
gegen dieses, da es nichts Neues zu sagen scheint. Bei näherer
Betrachtung aber erweist es sich als so reich an gewaltigen Einzel-
motiven und feurigem Leben, dass man in ein sprachloses Staunen
über des Meisters unerschöpfte Lust an immer neuer Verherrlichung
des menschlichen Leibes geräth. In dem grossen Engelreigen, der
wundervolle Erscheinungen ekstatischen Sphärendaseins in sich
schliesst, knüpfte er, die Vorstellung zu äusserster Freiheit ent-
faltend, an seine dereinstigen Visionen des von Knaben auf seinem
Schöpferfluge begleiteten Gottes an.
Ein Stück des Kartons hat sich im Neapeler Museum erhalten:
er enthält die drei nach hinten eilenden Krieger. (Verz. 554. Studie
hierzu in der Albertina zu Wien, Verz. 529.)
Nur Wenige haben die Fresken selbst gesehen. Da deren Be-
urtheilung fast durchweg auf die alten Stiche von J. B. de Cavalleriis,
Beatrizet und Enea Vico sich begründete, ist es begreiflich, dass
sich nicht ganz zutreffende Meinungen bilden konnten. Jene Repro-
duktionen übertreiben die Muskulatur der Körper sehr; solch
peinlichen Eindruck bringen die Originale nicht hervor. Aber deren
Erhaltung ist freilich eine so ungenügende, dass ohne eine starke
Bethätigung der Phantasie das Grosse in diesen Schöpfungen zu
würdigen unmöglich ist. Dass in ihnen reine formale Momente
sich vordrängen, also die Virtuosität wenn auch nicht die Herr-
schaft, so doch eine bedeutende Rolle gewinnt, wird sich nicht
leugnen lassen. Die Schuld hieran tragen die Vorwürfe. Da, wo
sie des Künstlers Gefühl inspiriren, wie in der Engelschaar, offen-
bart er sogleich seine Tiefe und Gewalt.
Unter den Himmelsgeistern gewahrt man einen, der in ver-
zückter Anbetung, unbekümmert um den Vorgang, mit erhobenen