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Thode, Henry; Michelangelo; Michelangelo [Contr.]
Michelangelo: kritische Untersuchungen über seine Werke; als Anhang zu dem Werke Michelangelo und das Ende der Renaissance (Band 3): Verzeichniss der Zeichnungen, Kartons und Modelle — Berlin: Grote, 1913

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Vorwort

V

Kritischen Untersuchungen und den folgenden Besprechungen — habe
ich nicht nachweisen können, dass gerade Formen, die Jenen
Zweifel erweckten, für ächte Schöpfungen des Meisters höchst
charakteristisch sind. Oft musste ich mir dabei sagen: es giebt
nicht nur Vorurtheile der Tradition, sondern auch solche der
Skepsis. Sonst liesse sich soweitgehendes Verkennen von Formen-
eigenthümlichkeiten gar nicht erklären.
Woran jene Beurtheiler es aber fast gänzlich fehlen lassen, ist
die Berücksichtigung der Argumente, die einem, verschiedene Werke
verkettenden, in den Motiven und der Komposition zu Tage treten-
den geistigen und formalen Zusammenhang entnommen werden
können und müssen. Die Nichtbeachtung des Faktors der Erfin-
dung, d. h. der Art, der Assoziation und der Entwicklung der
Vorstellungen eines Meisters, dessen Wesen sich doch gerade hierin
mit besonderer Deutlichkeit manifestirt, scheint mir ein Grundfehler
der heute zumeist angewandten Stilkritik zu sein.
Bis zu welchen Verblendungen dieser Mangel an streng wissen-
schaftlicher Methode hinreissen kann, habe ich an einem Beispiel:
dem Fall: Michelangelo oder Sebastiano? eingehend im II. Bande
der Untersuchungen dargelegt. Hier ging die Willkür des, wie
bekannt, gerade wegen seiner Methode gerühmten Franz Wick-
hoff, dem Andere besinnungslos folgten, so weit, dass man, im
schreienden Widerspruch gegen alle Methode, die sichersten, unbe-
streitbarsten literarischen Zeugnisse: die eigenen Aussagen beider
Künstler, statt sie zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu machen,
einfach ignorirte und Hypothese auf Hypothese thürmte, bis schliess-
lich, wie in der Münchhausenschen Geschichte vom Wolf, der sich
in das Geschirr des Pferdes hineinfrass, an die Stelle von Michel-
angelo Sebastiano trat. Solchen Ausschreitungen einer irreführenden
Stilkritik habe ich, in diesem einen Falle ausführlich vorgehend,
jene die drei Faktoren gleichmässig berücksichtigende Methode
gegenübergestellt, die, weil nach meiner Überzeugung die richtige,
allen meinen Untersuchungen zu Grunde liegt. Womit ich nur
meinen Standpunkt kennzeichnen, nicht aber etwa sagen will, dass
nicht auch ich, was trotz aller Normen bei der grossen Schwierig-
keit mancher Fragen menschlich bleibt, mich öfters geirrt haben
könnte.
Bezüglich solcher Normen habe ich noch Eines hinzuzufügen.
Dass von den übereifrigen Skeptikern, im allzugrossen Vertrauen auf
die eigene Urtheilskraft, wie im Falle: Sebastiano, selbst sichere
Zeugnisse skrupellos missachtet werden, ist glücklicher Weise doch
eine Ausnahme. Ganz allgemein aber ist es, dass sie auf alte
Traditionen gar kein Gewicht legen, sondern sie ohne Weiteres
über Bord werfen. Auch dies muss ich für methodisch falsch halten.
 
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