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I. Kapitel: Begriff und Wesen der Kunstgeschichte.
selbst in der Person der Führenden — eine so enge Verbindung mit der freien
Kunst eingegangen ist.
Diese doppelte Orientierung der künstlerischen Aufgaben ist wohl
allermeist in der zwiefachen Stellung der Kunst begründet; sie hat eine
soziale Funktion — man weigert ihr den Titel Kunst, wenn sie nicht auf
andere zu wirken vermag1) —, und sie ist wieder die individuellste aller
Tätigkeiten, der volle und starke Ausdruck einer Einzelpersönlichkeit.
Betrachten wir sie vom sozialen Standpunkt, so war und ist sie mit
zahllosen gesellschaftlichen Bedürfnissen eng verknüpft und im letzten
Sinne „angewandt"; fassen wir sie vom psychologischen Standpunkt ins
Auge, so war sie vom ersten Keime an und ist auch heute die formale Ge-
staltung individueller Bewußtseinsvorgänge und als solche — im Rahmen
ihrer Gesetzlichkeit — frei. Dort hat sie die Tendenz, sich durch Verbindung
mit hohen Aufgaben religiöser, ethischer, sozialer Natur im Gewebe der
menschlichen Beziehungen eine starke Position zu erringen; hier das Streben,
sich von der Gebundenheit zu lösen und immer reiner der engeren Aufgabe
zu dienen.
So erscheint die Scheidung in angewandte und freie Künste in der
zweifachen Möglichkeit der Kunstbetrachtung begründet und im einzelnen
Objekt nicht so sehr als scharfer Unterschied wie als entgegengesetzte Grund-
tendenz charakterisiert2); eine Verschiedenheit, die für eine begriffliche
Differenzierung vielleicht nicht ausreicht, für die Praxis der Anwendung
im Sprachgebrauch aber wohl genügt.
Ein anderes für die Künste des Gesichts vielfach angewandtes Ein-
teilungsprinzip ist die Scheidung in nachahmende und dekorative Künste;
auch diese ist in der Praxis mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Denn
sobald man, wie dies wohl allgemein geschehen ist, die alte Nachahmungs-
theorie im Sinne einer Nachbildung der Wirklichkeit aufgibt, ist die Be-
stimmung des nachahmenden Charakters eines Kunstwerkes nicht leicht,
hat doch z. B. Ruskin sogar die Architektur in dieser Gruppe unterzubringen
vermocht3). Wenn, wie das z. B. in der neuerlichen Stützung der Illusions-
theorie geschieht, jedes Hervorbringen eines lebendigen Eindrucks, weil dies
auch die Natur tut, als beabsichtigte Illusion angesehen wird4), so verliert der
Begriff durch solche übermäßige Ausdehnung überhaupt alle Konsistenz
und Kraft; denn es ließe sich bei solcher Interpretation kein Kunstwerk
9 Z. B. Borgese in Verhandlungen des Philosophenkongresses in Heidelberg, 1908.
2) Eine ähnliche Zweiteilung der Kunstbetrachtung ist der Grundgedanke von Y. Hirns
Ursprung der Kunst, deutsch, Leipzig 1904.
3) Ein ähnlicher Hinweis auf den imitativen Charakter der Baukunst in Comtes Discours
preliminaire. Vgl. Spitzer a. a. 0., S. 288, Anm.
4) Konrad Lange, Über den Zweck der Kunst, Stuttgart 1912, S. 36, Anm. — Vgl.
dazu Leop. Ziegler, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur in Logos, I, S. 96.
I. Kapitel: Begriff und Wesen der Kunstgeschichte.
selbst in der Person der Führenden — eine so enge Verbindung mit der freien
Kunst eingegangen ist.
Diese doppelte Orientierung der künstlerischen Aufgaben ist wohl
allermeist in der zwiefachen Stellung der Kunst begründet; sie hat eine
soziale Funktion — man weigert ihr den Titel Kunst, wenn sie nicht auf
andere zu wirken vermag1) —, und sie ist wieder die individuellste aller
Tätigkeiten, der volle und starke Ausdruck einer Einzelpersönlichkeit.
Betrachten wir sie vom sozialen Standpunkt, so war und ist sie mit
zahllosen gesellschaftlichen Bedürfnissen eng verknüpft und im letzten
Sinne „angewandt"; fassen wir sie vom psychologischen Standpunkt ins
Auge, so war sie vom ersten Keime an und ist auch heute die formale Ge-
staltung individueller Bewußtseinsvorgänge und als solche — im Rahmen
ihrer Gesetzlichkeit — frei. Dort hat sie die Tendenz, sich durch Verbindung
mit hohen Aufgaben religiöser, ethischer, sozialer Natur im Gewebe der
menschlichen Beziehungen eine starke Position zu erringen; hier das Streben,
sich von der Gebundenheit zu lösen und immer reiner der engeren Aufgabe
zu dienen.
So erscheint die Scheidung in angewandte und freie Künste in der
zweifachen Möglichkeit der Kunstbetrachtung begründet und im einzelnen
Objekt nicht so sehr als scharfer Unterschied wie als entgegengesetzte Grund-
tendenz charakterisiert2); eine Verschiedenheit, die für eine begriffliche
Differenzierung vielleicht nicht ausreicht, für die Praxis der Anwendung
im Sprachgebrauch aber wohl genügt.
Ein anderes für die Künste des Gesichts vielfach angewandtes Ein-
teilungsprinzip ist die Scheidung in nachahmende und dekorative Künste;
auch diese ist in der Praxis mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Denn
sobald man, wie dies wohl allgemein geschehen ist, die alte Nachahmungs-
theorie im Sinne einer Nachbildung der Wirklichkeit aufgibt, ist die Be-
stimmung des nachahmenden Charakters eines Kunstwerkes nicht leicht,
hat doch z. B. Ruskin sogar die Architektur in dieser Gruppe unterzubringen
vermocht3). Wenn, wie das z. B. in der neuerlichen Stützung der Illusions-
theorie geschieht, jedes Hervorbringen eines lebendigen Eindrucks, weil dies
auch die Natur tut, als beabsichtigte Illusion angesehen wird4), so verliert der
Begriff durch solche übermäßige Ausdehnung überhaupt alle Konsistenz
und Kraft; denn es ließe sich bei solcher Interpretation kein Kunstwerk
9 Z. B. Borgese in Verhandlungen des Philosophenkongresses in Heidelberg, 1908.
2) Eine ähnliche Zweiteilung der Kunstbetrachtung ist der Grundgedanke von Y. Hirns
Ursprung der Kunst, deutsch, Leipzig 1904.
3) Ein ähnlicher Hinweis auf den imitativen Charakter der Baukunst in Comtes Discours
preliminaire. Vgl. Spitzer a. a. 0., S. 288, Anm.
4) Konrad Lange, Über den Zweck der Kunst, Stuttgart 1912, S. 36, Anm. — Vgl.
dazu Leop. Ziegler, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur in Logos, I, S. 96.