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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0100

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82

I. Kapitel: Begriff und Wesen der Kunstgeschichte.

Verlaufs gekommen schien 9; nur in abermaligem Untertauchen in den Quell
der Antike, der jetzt in der ungetrübten Reinheit der griechischen Kunst
erreichbar war, konnte einer Korruption ein Ende bereitet werden, die
nun viel verruchter und unverzeihlicher erschien als der mittelalterliche
Verfall, da die Straße zum Heil ja bereits einmal wiedergefunden und nur
mutwillig verlassen worden war. Bis in seltsame Details hinein wiederholt
diese Wiederbelebung durch den Klassizismus das Schauspiel, das die Re-
naissance geboten hatte2); wieder verdecken die Bilder der alten Kunst
den Weg zur Natur, der allein zu neuer Kraft leitete, wieder läßt ein naives
Selbstgefühl mit sich ein neues Leben der Kunst beginnen. Als Grenzbegriff
hat sich auch diese neue Renaissance ziemlich durchgesetzt, man räumt
ihr ein, daß sie dem natürlichen Weiterwachsen der mit der Renaissance
beginnenden Entwicklung innerlich begründeter Stile ein Ende bereitet
habe und eine neue Periode einleite, für deren Phasen das bewußte Verhält-
nis zur vorangegangenen Entwicklung charakteristisch sei; der Klassi-
zismus stehe an der Spitze der historischen Stile, die nicht in natürlichem
Bedürfnis, sondern in kunsthistorischem Wissen wurzeln. Die Bewertung
dieser Wiederbelebung aber hat sich überraschend schnell umgewandelt;
ursprünglich als ein heilbringendes Zurückgehen auf die reinsten Urquellen
der Kunst gepriesen, wurde sie im Lauf der letzten Jahrzehnte mehr und mehr
als ein frevelhaftes Abweichen von einer gesunden Entwicklung verdammt.
Die Frage der Bewertung, deren Abhängigkeit von der künstlerischen Ent-
wicklung des 19. Jahrhunderts übrigens leicht genug erkennbar ist, hat
uns hier nicht zu beschäftigen; aber auch die Frage, ob die Annahme einer
entscheidenden Stilgrenze an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert
überhaupt berechtigt ist, ist nicht bequem zu beantworten. Die übermäßige
Vergrößerung der Unterschiede, an der die nahsichtige Beurteilung des
19. Jahrhunderts gelitten hat, darf uns einige auffallende Züge nicht über-
sehen lassen; daß man in letzter Zeit stillschweigend die Stile doch noch
ein paar Jahrzehnte natürlich weiter wachsen läßt und der verachtetsten
aller Perioden, dem Holsderkukuk-Stil des Biedermeier, die Ehre eines
organischen Stils erweist, daß das umstrittene Jahrhundert nicht nur in
der retrospektiven Richtung seines künstlerischen Historismus notwendig
zur vorangegangenen Zeit gehört, sondern auch dort, wo wir seine eigen-
tümlichen Probleme bereits wahrzunehmen vermögen, als letztgeborener
Sohn des Barock — und damit Enkel der Renaissance erscheint3). Die

9 Eine genauere Analyse dieser wichtigen, sehr vernachlässigten Prozesse kann an
dieser Stelle nicht erfolgen; sie wird in dem Buch „Klassizismus und Romantik", das ich
seit Jahren vorbereite, enthalten sein.

2) Schöne, Über die beiden Renaissancebewegungen des 15. und 18. Jahrhunderts,
Kiel 1903; 0. Benndorf, Über die jüngsten geschichtlichen Wirkungen der Antike, Wien 1885.

3) Ich möchte betonen, daß Benndorf in dem eben zitierten geistvollen Vortrag als
 
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