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I. Kapitel: Begriff und Wesen der Kunstgeschichte.
der höfischen, von Frankreich beherrschten Kultur, der in einen neuen
Hellenismus ausmündenden Aufklärung.
Von dieser Auffassung ist auch Gurlitts dreibändige Geschichte des
Barockstils, des Rokoko und des Klassizismus, nicht ganz frei, die die Grund-
lage aller weiteren Forschungen auf diesem Gebiete bildete; aber die formalen
Eigenschaften spielen doch eine ganz andere Rolle als früher; Rokoko ist
ihm nur eine, als Baustil auf Deutschland beschränkte Variante des Barock,
und den Klassizismus erkennt er mit vollem Recht als eine nicht auf den
Ausgang des 18. Jahrhunderts beschränkte, sondern immer neben dem
Barock fortlaufende Stilrichtung1). D. h. neben der geschichtlich-chrono-
logischen Periodisierung macht sich bei ihm bereits das Bedürfnis nach
begrifflicher Stilbestimmung bemerkbar, ohne daß er aber auf volle Klarheit
dieser Begriffe drängt. Hier setzen die Bemühungen Späterer ein. Wölfflin
versuchte als erster, die schwimmende Grenze gegen die Renaissance zu
präzisieren2) und erklärte den Stilwandel als Übergang vom Strengen zum
Freien, vom Geformten zum Formlosen; in seiner Charakteristik des neuen
malerischen Stils mit seiner Massigkeit und Bewegung klingt deutlich eine
mißbilligende Note an, die Renaissance mit ihrer Kunst des schönen, ruhigen
Seins bleibt für ihn das Zentrale, an dem die Folgezeit gemessen wird. Diese
Auffassung ist erst von Schmarsow verlassen worden, der Wölfflins Inter-
pretation zu vertiefen und zu verschärfen suchte3). Dadurch, daß er den
Anfang des neuen Stils später ansetzt, fallen eine Reihe von Eigenschaften,
die als symptomatisch für den konventionellen Barockbegriff gelten, noch
in die Renaissance hinein; infolgedessen entfällt der präzise Gegensatz
zwischen den beiden Perioden, den Wölfflin seiner Auffassung entsprechend
herausgearbeitet hatte und wird andererseits der Komplex der Stil-
symptome ganz verschoben; das Resultat davon war, daß Schmarsow
eine frühere plastische von einer späteren malerischen Entwicklungsphase
unterschied. Der Kern des auffallenden Gegensatzes zwischen beiden
Forschern liegt in der Verschiedenheit des beiderseitigen Standpunkts;
Wölfflin mißt das Barock an der Renaissance, Schmarsow beurteilt es auch
in den Anfängen von jener höheren Warte, die der Titel seines Buches be-
zeichnet. Barock und Rokoko, der ganze Verlauf der Entwicklung seit
der Renaissance, ist sein Thema; und gegen das Rokoko, diese „malerisch
gewordene Kunst im eminenten Sinn"4), erscheinen die tragenden Eigen-
4) Diese Auffassung Gurlitts ist im Buch seines Schülers Paul Klopfer, Von Palladio
bis Schinkel, Eßlingen 1911, erweitert; allgemeiner und aus der bloßen Antithese Michelangelo
und Palladio losgelöst erscheint diese ergänzende Gegensätzlichkeit bei Konrad Escher, Barock
und Klassizismus, Leipzig 1910.
2) H. Wölfflin, Renaissance und Barock, München 1888; zweite Auflage daselbst 1907.
3) Aug. Schmarsow, Barock und Rokoko, Leipzig 1897.
4) A. a. 0. S. 359.
I. Kapitel: Begriff und Wesen der Kunstgeschichte.
der höfischen, von Frankreich beherrschten Kultur, der in einen neuen
Hellenismus ausmündenden Aufklärung.
Von dieser Auffassung ist auch Gurlitts dreibändige Geschichte des
Barockstils, des Rokoko und des Klassizismus, nicht ganz frei, die die Grund-
lage aller weiteren Forschungen auf diesem Gebiete bildete; aber die formalen
Eigenschaften spielen doch eine ganz andere Rolle als früher; Rokoko ist
ihm nur eine, als Baustil auf Deutschland beschränkte Variante des Barock,
und den Klassizismus erkennt er mit vollem Recht als eine nicht auf den
Ausgang des 18. Jahrhunderts beschränkte, sondern immer neben dem
Barock fortlaufende Stilrichtung1). D. h. neben der geschichtlich-chrono-
logischen Periodisierung macht sich bei ihm bereits das Bedürfnis nach
begrifflicher Stilbestimmung bemerkbar, ohne daß er aber auf volle Klarheit
dieser Begriffe drängt. Hier setzen die Bemühungen Späterer ein. Wölfflin
versuchte als erster, die schwimmende Grenze gegen die Renaissance zu
präzisieren2) und erklärte den Stilwandel als Übergang vom Strengen zum
Freien, vom Geformten zum Formlosen; in seiner Charakteristik des neuen
malerischen Stils mit seiner Massigkeit und Bewegung klingt deutlich eine
mißbilligende Note an, die Renaissance mit ihrer Kunst des schönen, ruhigen
Seins bleibt für ihn das Zentrale, an dem die Folgezeit gemessen wird. Diese
Auffassung ist erst von Schmarsow verlassen worden, der Wölfflins Inter-
pretation zu vertiefen und zu verschärfen suchte3). Dadurch, daß er den
Anfang des neuen Stils später ansetzt, fallen eine Reihe von Eigenschaften,
die als symptomatisch für den konventionellen Barockbegriff gelten, noch
in die Renaissance hinein; infolgedessen entfällt der präzise Gegensatz
zwischen den beiden Perioden, den Wölfflin seiner Auffassung entsprechend
herausgearbeitet hatte und wird andererseits der Komplex der Stil-
symptome ganz verschoben; das Resultat davon war, daß Schmarsow
eine frühere plastische von einer späteren malerischen Entwicklungsphase
unterschied. Der Kern des auffallenden Gegensatzes zwischen beiden
Forschern liegt in der Verschiedenheit des beiderseitigen Standpunkts;
Wölfflin mißt das Barock an der Renaissance, Schmarsow beurteilt es auch
in den Anfängen von jener höheren Warte, die der Titel seines Buches be-
zeichnet. Barock und Rokoko, der ganze Verlauf der Entwicklung seit
der Renaissance, ist sein Thema; und gegen das Rokoko, diese „malerisch
gewordene Kunst im eminenten Sinn"4), erscheinen die tragenden Eigen-
4) Diese Auffassung Gurlitts ist im Buch seines Schülers Paul Klopfer, Von Palladio
bis Schinkel, Eßlingen 1911, erweitert; allgemeiner und aus der bloßen Antithese Michelangelo
und Palladio losgelöst erscheint diese ergänzende Gegensätzlichkeit bei Konrad Escher, Barock
und Klassizismus, Leipzig 1910.
2) H. Wölfflin, Renaissance und Barock, München 1888; zweite Auflage daselbst 1907.
3) Aug. Schmarsow, Barock und Rokoko, Leipzig 1897.
4) A. a. 0. S. 359.