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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0332

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IV. Kapitel: Kritik.

zurückgegeben, das es nach Ansicht seines Bearbeiters ursprünglich gehabt
haben mochte oder das doch einen kompletten Gesamteindruck hervor-
bringen kann. In skrupellosester Weise wird ein fragmentarisch erhaltenes
Bild wieder auf Neu — oder eigentlich auf Alt — gebracht oder ein Torso
durch Ausstattung mit Gliedmaßen und Attributen verkäuflich gemacht1);
Restauratoren haben sich einen berühmten Namen dadurch gemacht, daß
man bei den Figuren, die aus ihren Händen hervorgingen, Altes und Neues
nicht unterscheiden konnte und haben ihrem Arbeiten ein System zugrunde
gelegt, das auf eine möglichste Vervollkommnung der Täuschung, bis zur
Nachahmung individueller Arbeitsweise, hinausläuft2).
Von einer fraudulösen Absicht kann allerdings bei dieser Art von Ver-
fälschung oft nicht gesprochen werden, denn sie entsprang vielfach einem
ästhetischen Bedürfnis, das auch heute noch nicht alle Kraft eingebüßt hat.
Dabei sind zwei verschiedene Stufen dieses ästhetischen Verhaltens zur alten
Kunst leicht zu unterscheiden. Die ältere Zeit verlangte auch vom alten
Kunstwerk eine möglichst vollständige Befriedigung ihres unmittelbaren
Kunstwollens; eine Pietät für den ursprünglichen Bestand kannte sie nicht
und hat ihn infolgedessen weder zu schonen noch herzustellen getrachtet.
Das alte Kunstwerk mußte sich dem modernen Kunstverlangen fügen, wenn
es nicht ganz zerstört oder vernachlässigt werden sollte. Bauwerke wurden
mit gewaltsamen Mitteln in den Stil der Zeit umgearbeitet, Skulpturen in
den Proportionen verändert, im Ausdruck modernisiert, mit neuen Glied-
maßen versehen und zu neuen effektvollen Gruppen zusammengestellt, Bilder
abgeschnitten oder angestückelt, in ein anderes Format gebracht, ganz oder
teilweise übermalt, kurz alle Arten von Denkmälern entstiegen dem Jung-
brunnen der Restauration in einer Form, die von der ursprünglichen oft wenig
verriet, aber sie der Gegenwart begehrenswert erscheinen ließ. Ausnahms-
weise nur erhoben sich Stimmen gegen ein so radikales Verfahren; hier und
da erschien ein Kunstwerk so unerreichbar vollkommen, daß eine Ergänzung
in der Qualität des Vorhandenen unmöglich war, Michelangelo weigerte sich,
den Torso des Belvedere zu ergänzen und Canova lehnte es ab, die Hand an
die Elgin Marbles zu legen3). Solche Rücksichten gelten aber nur für Werke

9 „Noch niemand hatte verstanden wie Cavaceppi, unscheinbare Trümmer zum Glanz
ihres früheren Lebens zurückzurufen. Seine Lords Hope, Holland, Egremont, Palmerston
und viele andere, die ihre Schlösser nach römischen Mustern ausstatten wollten, hätten über
verstümmelte Trunke, wie sie Cavaceppi von den Scarpellini und Vignaroli zum Teil für den
Marmorpreis erhielt, die Achsel gezuckt und sie nicht wieder erkannt in der Gestalt, die ihnen
die stilgemäße, gelehrte und elegante Ergänzung Cavaceppis anzauberte." K. Justi, Winckel-
mann und seine Zeitgenossen, Leipzig 1898, II2, S. 307.

2) Vgl. z. B. die Prinzipien, die Cavaceppi im Text seiner „Raccolta d'antiche statue,
busti, teste cognite ed altre sculture antiche" 1768/72 aufstellt.

3) A. Michaelis, Ein Jahrhundert kunstarchäologischer Entdeckungen, Leipzig 1908,
S. 37.
 
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