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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0334
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IV. Kapitel: Kritik.

lange selbstverständlich geworden ist und auch bei Malereien sein sollte.
In dieser Kategorie von Kunstwerken schleicht sich allerdings unter dem
Vorwand technischer Erhaltungsmaßregeln und der Beseitigung früherer Zu-
taten ein verkappter Stilpurismus nur allzugern noch ein und es mag bisweilen
fraglich erscheinen, ob bei einem Konflikt zwischen einer alten, frischweg
übermalenden Restaurierung und einer fragwürdigen Restitutio in integrum,
die einer kräftigen Nachhilfe bedarf, der moderne Wiederhersteller allemal
das künstlerische Recht auf seiner Seite hat1). Auch hierwird ein prinzipielles
„Hands off" die sicherste Gewähr gegen jede Art von Verfälschung sein.
Die Variante einer unrichtigen Bestimmung, die bei der Kritik der
mittelbaren Quellen als Irrtum bezeichnet wurde (S. 294), kommt auch bei
den Denkmälern in Betracht; auch diese werden bisweilen ohne ihr Zutun
für etwas anderes gehalten als sie sind, und wieder erscheint der Irrtum
hauptsächlich im Falle der Hyperkritik als eine charakteristische Abart
falscher Interpretation im allgemeinen. Eine solche irrtümliche Auffassung
kann wieder an die verschiedensten Seiten des Kunstwerks anknüpfen. An
Material und Technik; wenn z. B. das Vorkommen der Leinwand als Mal-
grund vor dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts bestritten und ge-
gebenenfalls als Beweis für die Unechtheit eines Bildes angeführt worden
ist oder gelegentlich das Vorkommen von Pflanzen statt von Tieren auf einer
Palissy-Schüssel gegen ihre Authentizität ins Treffen geführt wurde. An den
Inhalt, wenn bei Porträts der Dargestellte für einen anderen gehalten wurde,
wie etwa das Brustbild des Kaisers Commodus, das auf einem Siegel Karls
des Großen vorkommend, lange für dessen Bildnis galt oder jenes angebliche
Porträt Reuchlins in der Gießener Universitätsbibliothek, das Thorwaldsen
als Vorlage für dessen Walhallabüste benützte und das Gothein als Kopie
nach Rembrandts Radierung B. 350 erkannte2); oder wenn ein Denkmal eine
falsche ikonographische Deutung erhielt. Der Irrtum, der auf einer falschen
Beurteilung der Formen beruht, ist naturgemäß sehr häufig; hier sei wiederum
nur der durch Hyperkritik verschuldete Spezialfall angeführt, der den gor-
dischen Knoten einer schwierigen Bestimmung gewaltsam zerschneidet; ein
berühmtes Beispiel hyperkritischer Ablehnung echter Denkmäler ist die ur-
sprüngliche und lange zäh festgehaltene Falscherklärung der Höhlenfunde
der Dordogne3), ein charakteristischer Fall irrtümlicher Beurteilung einer

0 Ob z. B. der Paumgartnersche Altar Dürers durch die Fischersche Übermalung nach
1613 oder durch die jetzt so vielgerühmte Hausersche Wiederherstellung von 1902/3 übler
gefahren ist, könnte vielleicht später einmal das Thema einer spitzfindigen Doktorarbeit
werden.

2) Vgl. Bernheim a. a. O. S. 349; Gothein in Sybels historischer Zeitschrift 1881, N. F. X,
S. 562. Ein anderes Beispiel bei Th. v. Frimmel, Josef Danhauser und Beethoven,
Wien 1892.

3) Vgl. A. Conze, Über den Ursprung der bildenden Kunst in Sitzungsberichten der
Berliner Akademie 1897.
 
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