Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0338

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
320

IV. Kapitel: Kritik.

gänge ab, die meist geographisch oder wirtschaftlich begründet sind; Stil-
ausstrahlungen von irgendeinem Zentrum, Kunstkreise, innerhalb derer sich
die Geschwindigkeit der Entwicklung, beziehungsweise das Zurückbleiben
hinter den führenden Stellen bisweilen aus dem geographischen Radius be-
rechnen lassen. Daß diese lokalen Unterschiede, besonders wenn die geo-
graphische Distanz sehr einschrumpft, vielfach kulturelle sind, ist schon an-
gedeutet worden; eine höfische und eine bürgerliche Kultur, ein städtischer
und ein ländlicher Kunstkreis werden auf dieselbe Anregung verschieden
reagieren und das gleiche Problem in wesentlich verschiedener Weise re-
flektieren.
Aus all diesem ergibt sich, daß die zeitliche Bestimmung — wenn mög-
lich — immer mit einer tunlichst genauen lokalen Bestimmung kombiniert
sein soll. In großen Verbänden beruht die Inkongruenz der Problementwick-
lung auf grundlegenden Unterschieden der betreffenden Kulturen; dann
handelt es sich um parallel laufende Entwicklungsreihen, die verschiedene
Punkte zu verschiedenen Zeiten erreichen, so daß sich jene erwähnten neuen
Diagonalen der Stilwanderung ergeben. Dazu kommt, daß diese konver-
genten Entwicklungen sich keineswegs in völliger Unabhängigkeit neben-
einander abspielen, sondern daß von der voraneilenden Entwicklung auf die
nachfolgende eine vielfache Einwirkung stattfindet, die auf die Formbildung
der letzteren nicht ohne Einfluß sein kann; denn nehmen wir mit Recht an,
daß der Zeitstil der künstlerische Ausdruck bestimmter innerer Bedürfnisse
ist, so wird er dort, wo er rezepiert ist, nicht mit derselben Reinheit und Inten-
sität auftreten wie dort, wo er unmittelbar dem Boden entspringt. Hier
könnte allerdings ein Trugschluß vorliegen; wir, die Beurteiler, finden einen Stil
am reinsten, wo er entspringt und beurteilen, an dieser Urform messend, alle
späteren Veränderungen als Verunreinigungen. Anderseits aber kann ein
stilistisches Problem erst durch Verpflanzung auf einen fremden Boden zu
voller Reife gedeihen, und vielfach ist z. B. die deutsche Gotik als die
konsequenteste Ausbildung des in Frankreich entstandenen Stils angesehen
worden. Danach trifft folgende Einschränkung den Tatbestand vielleicht
völliger: Das in einem Zeitstil dominierende Problem, nach dem wir eine
Inferiorität einer lokalen Entwicklung konstatieren, ist absolut nicht das
einzige, das als konstitutives Element des Stilkomplexes zu bezeichnen
ist1); unter den zahlreichen Momenten, aus denen jede künstlerische Er-
scheinung sich zusammensetzt, gibt es vielleicht andere, die vom Stand-
9 Ähnlich warnt Vöge vor einer zu starken Systematisierung der Stilabfolge, „denn
die mittelalterliche Kunst fließt aus vielen lokalen Rinnsalen" (Der provengalische Ein-
fluß in Italien und die Datierung des Arler Portikus im Repertorium für Kunstwissenschaft
XXV, S. 409) und hebt Frank-Oberaspach die Korrekturen hervor, die die Phasen der goti-
schen Hauptentwicklung durch die nebeneinander bestehenden Lokalentwicklungen erfahren
(Der Meister der Ecclesia und Synagoge am Straßburger Münster, Düsseldorf 1903, S. 107).
 
Annotationen