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IV. Kapitel: Kritik.
die musealen Bedürfnisse nach Nomenklatur und das Verlangen des Publi-
kums nach Unantastbarkeit eingebürgerter Meinungen — das einzige zu-
lässige Verfahren, und es ist sehr bedauerlich, daß das starke Überwiegen
musealer Interessen eine rückläufige Bewegung erzeugt hat1), die darauf aus-
geht, stilistische Eigenschaften, die einer ganzen Zeit oder Künstlergruppe
eigentümlich sind, mit einem glänzenden oder wenigstens repräsentativen
Namen zu decken. Wenn die Bestimmung auf individuelle Meister auf Grund
einzelner Stilkriterien einen methodischen Wert besitzen soll, darf sie nur
mit völlig zuverlässigen Mitteln, mit einer sich stetig steigernden Objektivität
arbeiten2).
Diese Methode ist mit mehr oder weniger feinen Mitteln zu allen Zeiten
geübt worden; immer haben Kenner und Sammler Merkmale gesucht und
gefunden, die individuelle Arbeitsweise eines bestimmten Künstlers zu er-
kennen. Aber diese Kunstgriffe der Kennerschaft behielten alle Schwächen
einer rein empirischen Herkunft. Ohne Methode und System gelangte man
nur zu einer sehr ungenauen Erkenntnis, welche Übereinstimmungen
zur Annahme eines identischen Ursprungs berechtigen und welche Ver-
schiedenheiten einen gemeinsamen Urheber ausschließen. Die Ähnlichkeiten
können andere Gründe haben; der Schüler hat oft den Lehrer, dieser gelegent-
lich jenen nachgeahmt; zwei Mitschüler, zwei Mitglieder einer Werkstatt
haben den gleichen Duktus der Hand, gleiche Gewohnheiten, eine gleiche
Formensprache; ein Künstler hat ein Stück aus einem fremden Werk über-
nommen, hat es gröblich plagiiert, in wesentlichen Punkten nachgeahmt,
wann fangen die Übereinstimmungen an, für eine Künstlerindividualität zu
zeugen? Umgekehrt sind die Werke des einzelnen Künstlers in vielen Punkten
verschieden; er hat eine persönliche Entwicklung durchgemacht, die ein gutes
Stück umspannen kann; Jugend- und Alterswerke, sorgfältige und flüchtige
Arbeiten werden klaffende Gegensätze zeigen, Technik und Thema, der
Wunsch des Bestellers und die wechselnde Stimmung modifizieren seine Aus-
drucksweise, und das wäre endlich kein großer Künstler, der nicht in jedem
Werke neu wäre; wann darf aus diesen vielfachen Abweichungen eine Ver-
schiedenheit der Hand gefolgert werden?
Die empirische Kennerschaft hat sich mit diesen Schwierigkeiten recht
und schlecht abgefunden und als einziges Korrektiv ihrer objektiven Kriterien
jene früher charakterisierte intuitive Künstlererfassung benützt. Eine syste-
matische Ausbildung ihrer Methode erfolgte erst im neunzehnten Jahrhundert
') Wie dies in den Giorgione-Monographien Herbert Cooks und L. Justis der Fall ist.
L. Venturi, Giorgione e il Giorgionismo, Milano 1913, ist erfreulicherweise wieder zu der
strengen Auffassung zurückgekehrt.
2) Vgl. auch die ausführlichere Begründung dieses Standpunktes in meiner Besprechung
von Paul Kautzsch, Hans Backoffen und seine Schule, Leipzig 1911, in Kunstgeschichtliche
Anzeigen 1911, S. 30 ff.
IV. Kapitel: Kritik.
die musealen Bedürfnisse nach Nomenklatur und das Verlangen des Publi-
kums nach Unantastbarkeit eingebürgerter Meinungen — das einzige zu-
lässige Verfahren, und es ist sehr bedauerlich, daß das starke Überwiegen
musealer Interessen eine rückläufige Bewegung erzeugt hat1), die darauf aus-
geht, stilistische Eigenschaften, die einer ganzen Zeit oder Künstlergruppe
eigentümlich sind, mit einem glänzenden oder wenigstens repräsentativen
Namen zu decken. Wenn die Bestimmung auf individuelle Meister auf Grund
einzelner Stilkriterien einen methodischen Wert besitzen soll, darf sie nur
mit völlig zuverlässigen Mitteln, mit einer sich stetig steigernden Objektivität
arbeiten2).
Diese Methode ist mit mehr oder weniger feinen Mitteln zu allen Zeiten
geübt worden; immer haben Kenner und Sammler Merkmale gesucht und
gefunden, die individuelle Arbeitsweise eines bestimmten Künstlers zu er-
kennen. Aber diese Kunstgriffe der Kennerschaft behielten alle Schwächen
einer rein empirischen Herkunft. Ohne Methode und System gelangte man
nur zu einer sehr ungenauen Erkenntnis, welche Übereinstimmungen
zur Annahme eines identischen Ursprungs berechtigen und welche Ver-
schiedenheiten einen gemeinsamen Urheber ausschließen. Die Ähnlichkeiten
können andere Gründe haben; der Schüler hat oft den Lehrer, dieser gelegent-
lich jenen nachgeahmt; zwei Mitschüler, zwei Mitglieder einer Werkstatt
haben den gleichen Duktus der Hand, gleiche Gewohnheiten, eine gleiche
Formensprache; ein Künstler hat ein Stück aus einem fremden Werk über-
nommen, hat es gröblich plagiiert, in wesentlichen Punkten nachgeahmt,
wann fangen die Übereinstimmungen an, für eine Künstlerindividualität zu
zeugen? Umgekehrt sind die Werke des einzelnen Künstlers in vielen Punkten
verschieden; er hat eine persönliche Entwicklung durchgemacht, die ein gutes
Stück umspannen kann; Jugend- und Alterswerke, sorgfältige und flüchtige
Arbeiten werden klaffende Gegensätze zeigen, Technik und Thema, der
Wunsch des Bestellers und die wechselnde Stimmung modifizieren seine Aus-
drucksweise, und das wäre endlich kein großer Künstler, der nicht in jedem
Werke neu wäre; wann darf aus diesen vielfachen Abweichungen eine Ver-
schiedenheit der Hand gefolgert werden?
Die empirische Kennerschaft hat sich mit diesen Schwierigkeiten recht
und schlecht abgefunden und als einziges Korrektiv ihrer objektiven Kriterien
jene früher charakterisierte intuitive Künstlererfassung benützt. Eine syste-
matische Ausbildung ihrer Methode erfolgte erst im neunzehnten Jahrhundert
') Wie dies in den Giorgione-Monographien Herbert Cooks und L. Justis der Fall ist.
L. Venturi, Giorgione e il Giorgionismo, Milano 1913, ist erfreulicherweise wieder zu der
strengen Auffassung zurückgekehrt.
2) Vgl. auch die ausführlichere Begründung dieses Standpunktes in meiner Besprechung
von Paul Kautzsch, Hans Backoffen und seine Schule, Leipzig 1911, in Kunstgeschichtliche
Anzeigen 1911, S. 30 ff.