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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0353

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B. Kritik der Denkmäler.

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wörtliche Anwendung eines „ex ungue leonern" auf die Werke des Genius
schien dem Wesen der Kunst so sehr zu widersprechen, daß sich die leiden-
schaftliche Ablehnung der vermeintlich entwürdigenden Lehre gelegentlich
bis zu der Erklärung verstieg: man wolle lieber mit der Gegenseite irren als
mit Morelli und den Seinen im Rechte sein.
Seitdem hat sich die Sachlage geklärt und beruhigt. Tatsächlich lag
Morelli nichts ferner, als die Form der Fingernägel und der Ohrläppchen für
die charakteristischen Züge eines Künstlers zu halten oder zu erklären; ihm
war es vielmehr darum zu tun, Kriterien für die persönliche Arbeitsweise zu
finden, die in minder hohem Grade als die wesentlichen und ausschlaggebenden
Elemente eines Kunstwerkes an das Gefühl und eine subjektive Beurteilung
appellieren. Er wollte ein Bertillonage der Stilkritik schaffen; und so wenig
dieses die charakteristischen Züge des betreffenden Verbrechers feststellt,
sondern nur ein indiskutables individuelles Erkennungszeichen erlangen will,
so wenig will die Morellische Methode die Fäden einer Künstlerpersönlichkeit
bloßlegen, sondern vielmehr solche Merkmale finden, die aus zwei Gründen
objektive sind: einmal weil sie dem Künstler zur zweiten Natur, zur Selbst-
verständlichkeit geworden sind und ferner, weil sie so nebensächlicherscheinen,
daß sie der Nachahmung entgehen. Dadurch leisten sie, was sie sollen, lehren
zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Meister und Nachahmer unterscheiden.
Wertvolle Bestandteile der Morellischen Methode sind in den bleibenden
und allgemeinen Besitz der Kunstgeschichte übergegangen; aber es ist
zu beachten, daß sie nicht schlankweg auf alle Perioden oder auf alle Arten
der Kunstübung übertragen werden kann. Denn es ist wohl kein Zufall, daß
Morelli und Berenson ihre Grundsätze an Bildern des italienischen Quattro-
cento ausgebildet haben, also an einer Zeit, die in einem ganz bestimmten
Verhältnis zur Natur stand; mit diesem Verhalten zu den Vorbildern stehen
und fallen die gewonnenen Resultate, und schon aufs Cinquecento über-
tragen, verlieren sie an Klarheit und Triftigkeit1). Ihre Basis bildet eine
naturalistische und gleichzeitig auf die Einzelform orientierte Grundtendenz;
im Quattrocento streben die Maler danach, jedes einzelne Objekt in seiner
objektiven Gestalt zu erfassen und sammeln einen Schatz von Beobachtungen,
von gelungenen Lösungen dieses Problems. Daher lassen sich die einzelnen
Bildelemente nach ihrer Bedeutung für das Gesicht, für den ganzen Menschen
usw. werten.
Da sich in der Folgezeit die Fortbildung der Malerei, soweit sie die Be-
herrschung des Weltbildes vervollständigen und vertiefen will, auf kolo-
ristischen Bahnen bewegt, verlieren die kleinen Differenzen diesen größeren
Zusammenhängen gegenüber ihren Sinn; anderseits entwickeln sich diejenigen
9 Dies scheint mir z. T. von der wichtigsten auf Morellischen Grundsätzen aufgebauten
Arbeit über das Cinquecento zu gelten. H. Dollmayr, Raffaels Werkstätte, im Jahrbuch
der Kunstsammlungen des ah. Kaiserhauses, XVI.
 
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