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IV. Kapitel: Kritik.
als ein verzweifelt kühnes Unternehmen erscheinen, aus diesem verwickelten
Gespinst den individuellen, eigenhändigen Anteil auszulösen. Immer wieder
erscheint der Zerfaserung dieses induktiven Verfahrens gegenüber der um-
gekehrte, deduktive Weg, der von der Gesamterfassung des Künstlers aus-
geht, als der heilbringende, und auch Berenson stellt über den ganzen Apparat
der objektiven Kriterien als höhere Instanz das Qualitätsgefühl1); wie ein
Schiffbrüchiger kehrt er kleinmütig in den Hafen einer intuitiven Stilkritik
zurück. Und damit wirft er seinen ganzen Aufbau wieder zusammen und
reduziert die Stilkritik auf das, was — ich glaube — Max Liebermann
einmal witzig als die Aufgabe der Kunstgeschichte bezeichnet hat: den
Künstlern, wenn sie einmal tot sind, ihre schlechten Werke abzusprechen.
Zu einer solchen Resignation scheint keine Ursache vorzuliegen. Sicher
ist eine Gesamtkonzeption des Künstlers, eine von seinem Gefühlskomplex
ausgehende kunstpsychologische Erfassung, wie sie Deri ausarbeitete, un-
entbehrlich; sie spielt in der Praxis gewöhnlich die Rolle des Pfadfinders,
weist der Untersuchung, deren schwerfälligerer Park objektiver Kriterien be-
dächtig nachkommt, die Richtung; erst bestimmen wir intuitiv, dann ver-
suchen wir durch Heranbringung objektiver Vergleichsmerkmale das Vor-
urteil zum Urteil zu befestigen. Diese Nützlichkeit als Ansporn und An-
regungteilt die auf dem bloßen Gesamteindruck und der allgemeinen Qualität
aufgebaute intuitive Erfassung mit den Stimulantien vorwegnehmender Hypo-
thesen; aber wie sie nicht allein eine individuelle Bestimmung ermöglicht, so
steht sie auch nicht als höhere Instanz über den objektiven Kriterien, sondern
als unvermeidliche Ergänzung daneben. Wie in jeder Art historischer Fest-
stellung bleibt auch hier ein subjektiver Rest unausrottbar, aber es liegt im
Wesen wissenschaftlicher Methode, daß dieser Rest durch ein stetes Zu-
wächsen der objektiven Elemente ständig zurückgedrängt wird; auch in der
Kunstgeschichte ist es daher folgerichtig, aus dieser konstanten Gleichstellung
der Einzeltatsache mit einem a plus x die Schlußfolgerung zu ziehen2), man
müsse das objektiv feststellbare a mit allen Mitteln zu vermehren trachten.
Die Morellische Methode war ein in direkter Anlehnung an naturwissenschaft-
liche Arbeitsweise gemachter Versuch, zu einem Grundstock objektiver
Kriterien zu gelangen; daß sie kein immer und überall anwendbares Arkanum
ist, macht sie durchaus nicht wertlos. Wenig ist noch geschehen, auch ander-
wärts als in den morphologischen Formdetails die sicheren Spuren einer
individuellen Ausdrucksweise zu finden; aber es ist kaum zu bezweifeln, daß
auch einer tiefer getriebenen Analyse der Raumgestaltung oder der Farben-
gebung und aller sonstigen Bildelemente ähnliche Erfolge beschieden sein
9 Berenson, a. a. 0. S. 146f.; vgl. dagegen Wickhoff in Kunstgeschichtliche Anzeigen
1904, S. 26.
2) Paul Hinneberg, Die philosophischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft in
Historische Zeitschrift 63 (1889), S. 37.
IV. Kapitel: Kritik.
als ein verzweifelt kühnes Unternehmen erscheinen, aus diesem verwickelten
Gespinst den individuellen, eigenhändigen Anteil auszulösen. Immer wieder
erscheint der Zerfaserung dieses induktiven Verfahrens gegenüber der um-
gekehrte, deduktive Weg, der von der Gesamterfassung des Künstlers aus-
geht, als der heilbringende, und auch Berenson stellt über den ganzen Apparat
der objektiven Kriterien als höhere Instanz das Qualitätsgefühl1); wie ein
Schiffbrüchiger kehrt er kleinmütig in den Hafen einer intuitiven Stilkritik
zurück. Und damit wirft er seinen ganzen Aufbau wieder zusammen und
reduziert die Stilkritik auf das, was — ich glaube — Max Liebermann
einmal witzig als die Aufgabe der Kunstgeschichte bezeichnet hat: den
Künstlern, wenn sie einmal tot sind, ihre schlechten Werke abzusprechen.
Zu einer solchen Resignation scheint keine Ursache vorzuliegen. Sicher
ist eine Gesamtkonzeption des Künstlers, eine von seinem Gefühlskomplex
ausgehende kunstpsychologische Erfassung, wie sie Deri ausarbeitete, un-
entbehrlich; sie spielt in der Praxis gewöhnlich die Rolle des Pfadfinders,
weist der Untersuchung, deren schwerfälligerer Park objektiver Kriterien be-
dächtig nachkommt, die Richtung; erst bestimmen wir intuitiv, dann ver-
suchen wir durch Heranbringung objektiver Vergleichsmerkmale das Vor-
urteil zum Urteil zu befestigen. Diese Nützlichkeit als Ansporn und An-
regungteilt die auf dem bloßen Gesamteindruck und der allgemeinen Qualität
aufgebaute intuitive Erfassung mit den Stimulantien vorwegnehmender Hypo-
thesen; aber wie sie nicht allein eine individuelle Bestimmung ermöglicht, so
steht sie auch nicht als höhere Instanz über den objektiven Kriterien, sondern
als unvermeidliche Ergänzung daneben. Wie in jeder Art historischer Fest-
stellung bleibt auch hier ein subjektiver Rest unausrottbar, aber es liegt im
Wesen wissenschaftlicher Methode, daß dieser Rest durch ein stetes Zu-
wächsen der objektiven Elemente ständig zurückgedrängt wird; auch in der
Kunstgeschichte ist es daher folgerichtig, aus dieser konstanten Gleichstellung
der Einzeltatsache mit einem a plus x die Schlußfolgerung zu ziehen2), man
müsse das objektiv feststellbare a mit allen Mitteln zu vermehren trachten.
Die Morellische Methode war ein in direkter Anlehnung an naturwissenschaft-
liche Arbeitsweise gemachter Versuch, zu einem Grundstock objektiver
Kriterien zu gelangen; daß sie kein immer und überall anwendbares Arkanum
ist, macht sie durchaus nicht wertlos. Wenig ist noch geschehen, auch ander-
wärts als in den morphologischen Formdetails die sicheren Spuren einer
individuellen Ausdrucksweise zu finden; aber es ist kaum zu bezweifeln, daß
auch einer tiefer getriebenen Analyse der Raumgestaltung oder der Farben-
gebung und aller sonstigen Bildelemente ähnliche Erfolge beschieden sein
9 Berenson, a. a. 0. S. 146f.; vgl. dagegen Wickhoff in Kunstgeschichtliche Anzeigen
1904, S. 26.
2) Paul Hinneberg, Die philosophischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft in
Historische Zeitschrift 63 (1889), S. 37.