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IV. Kapitel: Kritik.
Raumproblem objektive Stilkriterien zu gewinnen trachten. Neuere
Anläufe lassen hoffen, daß hier bisher noch unbetretene Wege zur Erkenntnis
und Feststellung nicht nur allgemeiner Stilvorgänge, sondern auch der künst-
lerischen Einzelpersönlichkeit erschlossen werden können. Im persönlichen
Verhältnis zur Farbe, in der Auffassung der Komposition, in der Verwendung
des Ausdrucks aber liegen noch zahlreiche Möglichkeiten völlig brach; an
ihrer Verwirklichung mitzuarbeiten, scheint mir nützlicher zu sein, als einem
subjektiven Geschmäcklerwesen ein psychologisches Hintertürchen zu öffnen.
4. Abhängigkeit der Denkmäler.
Die letzte kritische Frage, die an die mittelbaren Quellen zu richten war,
inwieweit sie nämlich als selbständige Bezeugungen ihres Inhalts oder nur
als Reproduktionen anderer Quellen anzusehen seien, ist auch auf die Denk-
mäler anwendbar. Nur ist sie hier größtenteils eine Angelegenehit der Inter-
pretation; denn die Selbständigkeit oder Abhängigkeit des Kunstwerks ist
in der Tat die des Kunstwollens, das sich in ihm verkörpert; auch abhängig
ist das Kunstwerk in allererster Linie ein Zeugnis für das Kunstwollen seiner
Entstehungszeit. Trotzdem ist der Umstand der direkten — kompletten oder
partiellen — Abhängigkeit von einem andern für die Intensität, mit der jenes
Ausdruck der künstlerischen Zeitideen sein kann, von so entscheidender Be-
deutung, daß die Frage auch an dieser Stelle wenigstens gestreift werden muß.
Die Abhängigkeit kann in ihren Absichten und in ihren Graden sehr
verschieden sein; Fälschung und Kopie, Verfälschung, Pasticcio und teilweise
Entlehnung von Einzelheiten und Motiven sind höchst ungleich zu beur-
teilende Typen mangelnder Selbständigkeit. Fälschung und Verfälschung
sind Versuche, ein Denkmal als Ausdruck eines Kunstwollens auszuspielen,
mit dem es nichts zu tun hat; ihr Quellenwert ist demnach null, soweit nicht
die aus fraudulösen Zwecken angefertigte direkte Nachbildung eines älteren
verlorenen Kunstwerks vorliegt. In diesem Fall ist der Quellenwert der
gleiche wie bei einer sonstigen Kopie oder den teilweisen Entlehnungen, näm-
lich von der sonstigen Bezeugung des betreffenden künstlerischen Tat-
bestandes abhängig. Wie eine noch so zusammengestoppelte Schriftquelle
wertvoll ist, wenn ihre Vorlagen unerreichbar geworden sind und uns etwa
Plinius trotz seiner kompilatorischen Unselbständigkeit ein unentbehrlicher
Schatz ist, so wird auch die künstlerische Kopie, sobald ihre Vorlage fehlt,
zu einer Art Ersatz für diese1) und in ähnlicher Art der Reflex zugrundege-
gangener Kunstwerke in minder bedeutenden ein wichtiges Zeugnis für jene;
der fahle Abglanz der griechischen Monumentalmalerei in den von ihr ab-
auch Voll, Die Werke des Jan van Eyck, Straßburg 1900, S. 69: Für die Datierung der un-
bezeichneten Werke ist die Raumbehandlung von größter Wichtigkeit.
9 Vgl. das bei den bildlichen Quellen S. 221 ff. Vorgebrachte.
IV. Kapitel: Kritik.
Raumproblem objektive Stilkriterien zu gewinnen trachten. Neuere
Anläufe lassen hoffen, daß hier bisher noch unbetretene Wege zur Erkenntnis
und Feststellung nicht nur allgemeiner Stilvorgänge, sondern auch der künst-
lerischen Einzelpersönlichkeit erschlossen werden können. Im persönlichen
Verhältnis zur Farbe, in der Auffassung der Komposition, in der Verwendung
des Ausdrucks aber liegen noch zahlreiche Möglichkeiten völlig brach; an
ihrer Verwirklichung mitzuarbeiten, scheint mir nützlicher zu sein, als einem
subjektiven Geschmäcklerwesen ein psychologisches Hintertürchen zu öffnen.
4. Abhängigkeit der Denkmäler.
Die letzte kritische Frage, die an die mittelbaren Quellen zu richten war,
inwieweit sie nämlich als selbständige Bezeugungen ihres Inhalts oder nur
als Reproduktionen anderer Quellen anzusehen seien, ist auch auf die Denk-
mäler anwendbar. Nur ist sie hier größtenteils eine Angelegenehit der Inter-
pretation; denn die Selbständigkeit oder Abhängigkeit des Kunstwerks ist
in der Tat die des Kunstwollens, das sich in ihm verkörpert; auch abhängig
ist das Kunstwerk in allererster Linie ein Zeugnis für das Kunstwollen seiner
Entstehungszeit. Trotzdem ist der Umstand der direkten — kompletten oder
partiellen — Abhängigkeit von einem andern für die Intensität, mit der jenes
Ausdruck der künstlerischen Zeitideen sein kann, von so entscheidender Be-
deutung, daß die Frage auch an dieser Stelle wenigstens gestreift werden muß.
Die Abhängigkeit kann in ihren Absichten und in ihren Graden sehr
verschieden sein; Fälschung und Kopie, Verfälschung, Pasticcio und teilweise
Entlehnung von Einzelheiten und Motiven sind höchst ungleich zu beur-
teilende Typen mangelnder Selbständigkeit. Fälschung und Verfälschung
sind Versuche, ein Denkmal als Ausdruck eines Kunstwollens auszuspielen,
mit dem es nichts zu tun hat; ihr Quellenwert ist demnach null, soweit nicht
die aus fraudulösen Zwecken angefertigte direkte Nachbildung eines älteren
verlorenen Kunstwerks vorliegt. In diesem Fall ist der Quellenwert der
gleiche wie bei einer sonstigen Kopie oder den teilweisen Entlehnungen, näm-
lich von der sonstigen Bezeugung des betreffenden künstlerischen Tat-
bestandes abhängig. Wie eine noch so zusammengestoppelte Schriftquelle
wertvoll ist, wenn ihre Vorlagen unerreichbar geworden sind und uns etwa
Plinius trotz seiner kompilatorischen Unselbständigkeit ein unentbehrlicher
Schatz ist, so wird auch die künstlerische Kopie, sobald ihre Vorlage fehlt,
zu einer Art Ersatz für diese1) und in ähnlicher Art der Reflex zugrundege-
gangener Kunstwerke in minder bedeutenden ein wichtiges Zeugnis für jene;
der fahle Abglanz der griechischen Monumentalmalerei in den von ihr ab-
auch Voll, Die Werke des Jan van Eyck, Straßburg 1900, S. 69: Für die Datierung der un-
bezeichneten Werke ist die Raumbehandlung von größter Wichtigkeit.
9 Vgl. das bei den bildlichen Quellen S. 221 ff. Vorgebrachte.