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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0106

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I. Kapitel: Begriff und Wesen der Kunstgeschichte.

von der Bedeutung eines Stils durch einen anderen glattweg fortgedrängt
werden könnte, ist so, als wollte man die Reformation oder die französische
Revolution in irgendwelche Grenzen einspannen; auch in der Kunstgeschichte
vollzieht sich jede Entwicklung nach dem Gesetz der historischen Resul-
tanten1), nämlich so, daß alle Eigenschaften der einzelnen Bedingungen in
die Folge hineinwirken, wie könnten da andere Stilbegriffe als relative
gewonnen werden?
Anders verhält es sich, wenn man unter Barock überhaupt nicht mehr
einen bloßen Zeitstil versteht, „sondern ein allgemeines Stilprinzip, das,
des eigenen Formensystems entbehrend, eines jeden historischen Stils sich
bemächtigen kann"2). Dann sind Barock und Renaissance — wie Dehio
richtig weiter ausführt — einander nicht gefolgt, sondern gingen von Anfang
an nebeneinander her, ersterer die Fortentwicklung der Gotik, die nur ge-
legentlich mit der italienischen Renaissance Verbindungen eingeht. In der
Fortbildung dieser Ideen ist der Barockstil vollends wieder zur Anwendung
der „Formen mit einer bis zur Sinnlosigkeit sich steigernden Willkür" ge-
langt, „um eine beabsichtigte künstlerische Idee oder Wirkung darzustellen"3).
Damit ist die ursprüngliche und volkstümliche Vorstellung von Barock
wieder zum Teil in ihre Rechte eingesetzt, und sein Name deckt nicht mehr
die ganze Architekturentwicklung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, sondern
bezeichnet nur eine Strömung, neben der eine zweite, an der Tradition
festhaltende Richtung besteht, die wir früher als Klassizismus bezeichnet
fanden. Diese Auffassung führt also zu dem Zweivätersystem des Barock
zurück, das Gurlitt aufgestellt hat4); denn es ist kein Zweifel, das jener Zwie-
spalt für Italien so gut gilt wie für den Norden, daß auch dort neben einer
an der tektonischen Tradition weiterbauenden Richtung eine solche existiert,
die jene zu einem unbeschränkten Individualismus auflöst, Palladio und
Michelangelo leben in Bernini und Borromini wieder auf5). Als eine Charak-
terisierung einer Seite der Kunstentwicklung ist diese Beschränkung des
Barockbegriffs also sicher treffend, aber sie nimmt uns gerade, was wir

9 Wundt, Logik2, S. 408. „Jeder einzelne in einem engeren oder umfassenderen Be-
griff zusammenzufassende Inhalt der Geschichte ist die resultierende Wirkung aus einer
Mehrheit geschichtlicher Bedingungen, mit denen er derart zusammenhängt, daß in ihm die
qualitative Natur jeder einzelnen Bedingung nachwirkt, während er doch zugleich einen
neuen und einheitlichen Charakter besitzt, der zwar durch die historische Analyse abgeleitet,
niemals aber aus ihnen durch eine a priori ausgeführte Synthese ausgeführt werden kann."

2) Dehio-Bezold, Die kirchliche Baukunst des Abendlandes II, S. 190; Dehio, Der
Meister des Gemminger-Denkmals im Dom zu Mainz im Jahrbuch der preußischen Kunst-
sammlungen 1909, S. 139.

3) Rob. Hedicke, Begriff und Wesen des Barock im Repertorium XXXIV, S. 17.

4) Siehe S. 86.

5) Dvorak, Francesco Borromini als Restaurator im Kunsthistorischen Jahrbuch der
Zentralkommission, 1907, Beiblatt 89.
 
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