§ 4. Einteilung der Kunstgeschichte.
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Meyer, der seine deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ebenfalls
in Dekaden geteilt hat — den Vorwurf gemacht, daß auf diese Art die Materie
in Scheiben geschnitten werde; man darf ihm aber auch die Anerkennung
einer stark logischen, entwicklungsgeschichtlichen Konsequenz nicht versagen,
die Meyer in seinem von uns mehrfach zitierten Rechtfertigungsaufsatz
für seinen Versuch in Anspruch genommen hat1).
Denn da doch der Glaube an die Stetigkeit der Entwicklung die Grund-
lage unserer historischen Überzeugung ist, müssen wir die Auflösung der
ganzen Entwicklung in Spannen, die mit der Verfeinerung unseres wissen-
schaftlichen Rüstzeugs und der Zunahme unserer Kenntnisse immer kleiner
werden, für möglich und statthaft halten. Tatsächlich benutzen wir eine
so weitgehende zeitliche Zerkleinerung des Materials in unserer Datierungs-
praxis seit langem, und eine museale Angabe: „Letztes Jahrzehnt des XV. Jahr-
hunderts" oder „um 1510" appelliert doch offenbar an eine dem Sach-
verständigen klare und eindeutige Vorstellung von der Kunst in jener Zeit-
spanne; diese Vorstellung ist sogar so deutlich, daß wir ein Werk, für das
sich nachträglich eine andere Datierung ergibt, als anachronistisch — Vor-
läufer oder zurückgeblieben — empfinden.
Diese Art der Bezeichnung einer künstlerischen Äußerung ist ein Ver-
such, sich von dem Komplexen und Vieldeutigen der Stilnamen zu befreien,
eine chronologische Angabe, die für die Zwecke des Historikers ausreicht,
aber keine Periodisierung, die dem allgemeinen Gebrauch dienen kann und
auf Stilbegriffen aufgebaut ist. Denn unter Zeitstil ist — in Analogie zu
den zahlreichen anderen Verwendungen, die wir dem Wort Stil geben2)
— etwas innerlich Notwendiges, im Stand der Technik und der allgemeinen
Kulturlage Begründetes verstanden. Diese Vorstellung — zunächst für die
Antike — hat in der klassizistischen Ästhetik eine starke und eingehende
Begründung erfahren; alle früheren Bemühungen, das „Naturgemäße" der
antiken Baukunst zu erfassen, hat Bötticher in seiner bedeutenden Lehre
zusammengefaßt, der die Erfüllung des inneren Zwecks als Grundgesetz
der Tektonik der Hellenen erwies3). Dem natürlichen Stil der Antike wurde
später der nicht minder organisch gewachsene Stil der Gotik angereiht;
beiden klar durchsichtigen Organismen wurden die übrigen Stile als ab-
geleitete gegenübergestellt, denen nicht die folgerichtige Durchbildung der
eigenen Struktur, sondern die Ausbildung der Flächen- und Raumverhält-
nisse als Aufgabe zugewiesen wurde. Wir werden kaum geneigt sein, diese
Trennung in solcher Schärfe aufrechtzuhalten. Denn verstehen wir unter
9 Dieses entwicklungsgeschichtliche Moment bei Baldinucci hat Justi (Winckelmann
III2, 72) deutlich hervorgehoben und mit seiner Tätigkeit für die mediceische Sammlung
von Handzeichnungen in Zusammenhang gebracht.
2) Emil Utitz, Was ist Stil? Stuttgart 1911.
3) Richard Streiter, Karl Böttichers Tektonik der Hellenen, Hamburg 1896.
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Meyer, der seine deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ebenfalls
in Dekaden geteilt hat — den Vorwurf gemacht, daß auf diese Art die Materie
in Scheiben geschnitten werde; man darf ihm aber auch die Anerkennung
einer stark logischen, entwicklungsgeschichtlichen Konsequenz nicht versagen,
die Meyer in seinem von uns mehrfach zitierten Rechtfertigungsaufsatz
für seinen Versuch in Anspruch genommen hat1).
Denn da doch der Glaube an die Stetigkeit der Entwicklung die Grund-
lage unserer historischen Überzeugung ist, müssen wir die Auflösung der
ganzen Entwicklung in Spannen, die mit der Verfeinerung unseres wissen-
schaftlichen Rüstzeugs und der Zunahme unserer Kenntnisse immer kleiner
werden, für möglich und statthaft halten. Tatsächlich benutzen wir eine
so weitgehende zeitliche Zerkleinerung des Materials in unserer Datierungs-
praxis seit langem, und eine museale Angabe: „Letztes Jahrzehnt des XV. Jahr-
hunderts" oder „um 1510" appelliert doch offenbar an eine dem Sach-
verständigen klare und eindeutige Vorstellung von der Kunst in jener Zeit-
spanne; diese Vorstellung ist sogar so deutlich, daß wir ein Werk, für das
sich nachträglich eine andere Datierung ergibt, als anachronistisch — Vor-
läufer oder zurückgeblieben — empfinden.
Diese Art der Bezeichnung einer künstlerischen Äußerung ist ein Ver-
such, sich von dem Komplexen und Vieldeutigen der Stilnamen zu befreien,
eine chronologische Angabe, die für die Zwecke des Historikers ausreicht,
aber keine Periodisierung, die dem allgemeinen Gebrauch dienen kann und
auf Stilbegriffen aufgebaut ist. Denn unter Zeitstil ist — in Analogie zu
den zahlreichen anderen Verwendungen, die wir dem Wort Stil geben2)
— etwas innerlich Notwendiges, im Stand der Technik und der allgemeinen
Kulturlage Begründetes verstanden. Diese Vorstellung — zunächst für die
Antike — hat in der klassizistischen Ästhetik eine starke und eingehende
Begründung erfahren; alle früheren Bemühungen, das „Naturgemäße" der
antiken Baukunst zu erfassen, hat Bötticher in seiner bedeutenden Lehre
zusammengefaßt, der die Erfüllung des inneren Zwecks als Grundgesetz
der Tektonik der Hellenen erwies3). Dem natürlichen Stil der Antike wurde
später der nicht minder organisch gewachsene Stil der Gotik angereiht;
beiden klar durchsichtigen Organismen wurden die übrigen Stile als ab-
geleitete gegenübergestellt, denen nicht die folgerichtige Durchbildung der
eigenen Struktur, sondern die Ausbildung der Flächen- und Raumverhält-
nisse als Aufgabe zugewiesen wurde. Wir werden kaum geneigt sein, diese
Trennung in solcher Schärfe aufrechtzuhalten. Denn verstehen wir unter
9 Dieses entwicklungsgeschichtliche Moment bei Baldinucci hat Justi (Winckelmann
III2, 72) deutlich hervorgehoben und mit seiner Tätigkeit für die mediceische Sammlung
von Handzeichnungen in Zusammenhang gebracht.
2) Emil Utitz, Was ist Stil? Stuttgart 1911.
3) Richard Streiter, Karl Böttichers Tektonik der Hellenen, Hamburg 1896.