Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0114

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
96

I. Kapitel: Begriff und Wesen der Kunstgeschichte.

dem natürlichen Organismus einer Kunst etwas in ihrer historischen Eigen-
tümlichkeit Begründetes, so werden wir diese auszeichnende Eigenschaft
weder der griechischen Kunst noch der Gotik zusprechen dürfen; namentlich
diese müßte den Anspruch an den romanischen Stil abgeben, der in jüngster
Zeit als der konsequent konstruktive Stil bezeichnet wurde, als dessen
Zerfall die Gotik zu gelten habe1). Verstehen wir aber darunter etwas Ästhe-
tisches, die Bindung durch innere Gesetze, deren mathematische Grundver-
hältnisse errechenbar sind, so kann dies keine Eigenschaft bestimmter Stile
sein, sondern muß für alle Anwendung finden können; denn alle Stile können
durch Feststellung ihrer gesetzmäßigen Proportionen rationalisiert werden2).
Mögen aber alle Stile hierin auch gleiche Ansprüche haben, so
brauchen sie zu dieser inneren Aufgabe doch nicht in gleichem Verhältnis
zu stehen; sie können nach der Lösung ringen, sie können sie sicher meistern
und sie kann ihnen gleichgültig geworden sein. Im anthropomorphen Bilde
von Kindheit, Reife und Verfall hat diese Auffassung der stilistischen Ent-
wicklung eine bedeutende Rolle gespielt, denn hier schien sich eine Grund-
lage für die unaufhörliche und gesetzmäßige Veränderung der künstlerischen
Vorgänge darzubieten3). Für den Periodenbau der Kunstgeschichte aber
konnte man in dieser Art ein festes Gerüst gewinnen; der ganze Aufbau
zerfällt in eine Folge von Abschnitten, die in der Hauptsache den gleichen
Prozeß des Aufblühens, Reifseins, Verwelkens wiederholen, in periodische
Perioden. Ein solches System, wie es etwa die Hegelsche Kunstlehre als eine
stetige Abfolge von strengem, idealem und angenehmem Stil4) oder Konrad
Lange als ein Alternieren idealistischer und naturalistischer Tendenz auf-
gestellt haben5), hat z. B. Cohn-Wiener seiner entwicklungsgeschichtlichen
Darstellung zugrunde gelegt; ihm scheint sich sowohl in der mittelalterlichen
als in der mit der Renaissance anhebenden und bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts fortgesetzten Entwicklung eine gesetzliche Abfolge von konstruk-
tivem, dekorativem und rein ornamentalem Stil zu vollziehen, parallel zum
genau gleichen Aufbau der klassischen Antike; ein neuer Dreiklang beginne
mit dem Ringen unserer Zeit nach einem konstruktiven Stil. Neben dieser
kurzwelligen Bewegung erfreut sich eine langwellige einiger Beliebtheit;
dieser Auffassung erscheint die ganze nachantike Entwicklung eine einheit-

9 E. Cohn-Wiener, Die Entwicklungsgeschichte der Stile in der bildenden Kunst, 1909.

2) Fritz Hoeber, Orientierende Vorstudien zur Systematik der Architekturpropor-
tionen auf historischer Grundlage, Frankfurt 1906.

3) Über die Ermüdungstheorien in der Interpretation der künstlerischen Entwicklung
siehe Kapitel I, § 5, 4.

4) Siehe K. Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, Hegel, II, S. 865. — Vgl.
auch die verwandte Einteilung bei Ant. Mayer, Der Gefühlsausdruck in der bildenden Kunst,
Berlin 1913, S. 56.

5) Konrad Lange, Zur Philosophie der Kunstgeschichte in Zeitschrift für Ästhetik
IV, S. 103 ff.
 
Annotationen