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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0340

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IV. Kapitel: Kritik.

non anzusehen haben — der Eindruck eines „zurückgebliebenen" Meisters
sich einstellen. Dieses uns aus der Praxis sehr geläufige Urteil gründet sich
auf die Beobachtung, daß das Werk bezüglich einzelner (in der Regel äußer-
licher) Probleme ein Stadium erreicht hat, das ein früheres Datieren aus-
schließt, daß aber andere Elemente desselben Werkes der Stufe noch nicht
entsprechen, die diese Probleme in der ermittelten Zeit bereits erreicht haben.
Umgekehrt kann ein Tasten, eine der Stärke der Stilempfindung wider-
sprechende Unsicherheit der ausführenden Eigenschaften den Eindruck eines
Vorläufers hervorrufen.
Es sind demnach die lokalen und individuellen Umstände eines Denk-
mals bei der Zeitbestimmung als wichtige Faktoren in Rechnung zu stellen;
aber so sehr sie im Einzelfall widerspruchsvoll und umwälzend wirken,
den Eindruck einer sich in der Zeit folgerichtig und unaufhaltsam abspielenden
Entwicklung vermögen sie doch nicht zu paralysieren. Jede Zeit hat ihre
Kunst; d. h. positiv, sie benützt gewisse Formen zum Ausdruck ihres Kunst-
wollens, und negativ, sie vermeidet Formen, die mit ihren künstlerischen
Bedürfnissen und Absichten in Widerspruch stehen. In jeder Periode kommen
also künstlerische Ausdrucksmittel auf und andere ab, woraus sich für jede
Zeit eine Formengrammatik und für jede Form eine zu umgrenzende Lebens-
dauer ergibt. Für die zeitliche Bestimmung kommt letzteres in Betracht, da
es den zu bestimmenden Gegenstand zwischen die beiden Pole des ersten
Auftauchens und des letzten Vorkommens aller in ihm erkennbaren künst-
lerischen Probleme einspannt. Die zweite dieser Grenzen ist sehr verschwom-
men; daß eine bestimmte Form „so spät nicht mehr vorkommen kann", ist
ein empirisch gewonnener und für die Praxis des Bestimmens maßgebender
Satz, aber darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß künstlerische Atavismen
sehr zäh sein können, und rein theoretisch besteht kein Grund, warum ein
künstlerisches Ausdrucksmittel, das einmal da war und sich bewährt hatte,
nicht wieder aus der Versenkung emportauchen könnte. Nicht nur die Ge-
schichte archaisierender Richtungen und künstlerischer Renaissancen lehrt
hier Vorsicht, sondern auch der Einblick in lokale und individuelle Zurück-
gebliebenheiten, den wir gewonnen haben; was im Zentrum der Entwicklung
und bei ihren Führern längst abgetan ist, kann in irgendeinem entlegenen
Asyl noch ganz prächtig gedeihen und der Terminus post quem non bleibt
eine trügerische Grenze.
Anders verhält es sich mit dem Anfangsdatum eines künstlerischen
Ausdrucksmittels; seine Voraussetzungen sind durch die vorausgehenden
Kunstformen gegeben und das Auslassen einzelner Glieder der kausalen Ent-
wicklungsreihe ist ein historischer Widersinn. Durch diese Gebundenheit
erhält die Anfangsgrenze der Probleme eine größere Zuverlässigkeit; wenn
für irgendein Gebiet die Fortexistenz der früheren Formen bis zu einer ge-
wissen Zeit feststellbar und das Aufkommen der neuen vor einem bestimmten
 
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