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Tietze, Hans
Die Methode der Kunstgeschichte: ein Versuch — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.70845#0348

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IV. Kapitel: Kritik.

scheint mir aber gerade dort zu versagen, wo es sich um die Individual-
bestimmung handeln würde. Die Differenzierung zweier nahverwandter
ästhetischer Erlebnisse kann schon deshalb nicht zu solcher Präzision ge-
bracht werden, weil der vom Kunstwerk gebotene objektive Tatbestand
innerhalb des ganzen Gefühlskomplexes eine schwerlich völlig zu isolierende
Rolle spielt. Wie viele Faktoren kommen bei jedem ästhetischen Erleben in
Betracht, wie könnte das dem Kunstwerk wirklich Angehörige zu wissen-
schaftlicher Brauchbarkeit objektiviert werden? Das Schulbild, das mir
heute unter besonderen Umständen — in der Entdeckerfreude, in einer Um-
gebung, die ihm als Repoussoir diente usw. — das Erlebnis „Tizian" ver-
mittelte, wird mir morgen, wenn ich von den Werken des Meisters komme,
das Erlebnis verweigern und keine Wiederholung der Vergleichung wird als
Kontrolle dienen können, weil jedem erneuten Experiment die Erinnerung
an frühere Überraschungen und Enttäuschungen gefühlsstörend beigemengt
bleibt. Jede historisierende Nachbildung, die von der Gesamtstimmung
der nachgeahmten Kunst ausgeht, wird berechtigt und dem Vorbild
gleichwertig, denn glaubten nicht die Neogotiker in ihren Werken dasselbe
zu erleben wie in den Domen, die sie bewunderten, und die Fälschung
ist dann so gut wie ein echtes Werk, denn wer von uns hat sich nicht
von einer geschickten Fälschung täuschen lassen und ihr den Tribut des
Gefühlserlebens dargebracht, den sie mit listigem Trug forderte!1) Die
ganze Welt der synästhetischen Gefühle und alles, was die Psychologie
des künstlerischen Schaffens, dessen Widerschein unser Nacherleben doch
ist, uns gelehrt hat, machen es unmöglich, Formbestand und Gefühlserlebnis
in eine feste Relation zu setzen wie Taste und Hammer und diese ganze
romantische Kunstpsychologie kann die Individualbestimmung weniger zu
einem objektiven Verfahren erheben, als die psychologischen Grundlagen
eines Verhaltens klarlegen, das dort, wo andere Methoden zur Bestimmung
versagen, unvermeidlich und unentbehrlich bleibt2).
Diese anderen Methoden ergeben sich aus der Fortsetzung der zur Er-
mittlung von Ort und Zeit geleisteten Arbeit. Durch Kreuzung der chrono-
logischen Entwicklung mit lokaler Besonderheit gelangen wir zur „Schule"

i) So gingen z. B. die Künstler, die im Dresdner Holbeinstreit Protest gegen das Ver-
dikt der Kunsthistoriker erhoben, von ihrem Gesamterlebnis „Holbein" aus, das notwendig
für das Dresdner Bild entscheiden mußte: „Vor allem konnte nur der Meister eine solche
Erhöhung der Idealität in Gestalt und Gebärde der Figur . .. erreichen, welche weit über
das im Darmstädter Exemplar Gegebene hinausgeht."

2) H. Gomperz hat in Kunstgeschichtliche Anzeigen 1911, S. 64, darauf aufmerksam
gemacht, wie sehr diese kunstpsychologische Bestimmungsweise in einer spezifisch modernen
„Persönlichkeitsbewertung" wurzelt. Daraus ergibt sich ein ergänzendes Verhältnis zu
anderen objektiven Bewertungen, die auf den kunstkritisch faßbaren Elementen aufgebaut
sind. Vgl. Gomperz, Über Persönlichkeitsbewertung, im Archiv für systematische Philo-
sophie, II. Abt., XV, S. 551.
 
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