Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Ulm — Nr. 19/​20.1967

DOI Artikel:
Schnaidt, Claude: Architektur und politsches Engagament
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.60952#0030
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vernunft und nicht auf das Engagement und die politische Aktivität
an der Seite der minderbegünstigten Klassen. Sie denken, es
genüge, die Menschen von den Vorzügen ihrer Projekte zu über-
zeugen, um diese dann schließlich zur Ausführung zu bringen.
Dieses Handlungskonzept hat sich immer als wirkungslos entpuppt.
Auf Grund seiner Unwirksamkeit bedingt es eine Verdrängung
des sozialen Verantwortungsbewußtseins, welche dann das
Aufkommen einer Menge von minderwertigen Ausdrucksformen
legitimer Tendenzen hervorruft. Nehmen wir das Beispiel des
Formalismus in der Architektur der zwanziger und dreißiger Jahre.
Er stammte zum größten Teil aus der vagen Vorstellung der
Architekten über den existierenden Widerspruch zwischen ihrer
humanistischen Auffassung der industriellen Zivilisation und dem
Merkantilismus der bürgerlichen Gesellschaft. Da sie nicht genau
wußten, wie sie ihr Schaffen mit der Realität in Einklang bringen
konnten, versuchten sie, die durch ihre angekündigte Veränderung
gestellten ökonomischen und sozialen Probleme auf ästhetischer
Ebene zu lösen. Sie glaubten, die notwendigen historischen
Voraussetzungen zur Realisierung ihres Ideals durch eine
ungestüme Suche nach einer neuen Formsprache ersetzen zu
können.
Es steht nicht an, über frühere Generationen den Stab zu brechen.
Sie arbeiteten im Bewußtsein ihrer Erfahrungen, gestützt auf
empirische Beobachtungen. Man muß ihnen Dank zollen. Aber
man muß auch feststellen, daß sie eine wissenschaftliche
Abstraktion nicht erreicht haben, die unerläßlich ist, um die
konkrete soziale Wirklichkeit zu durchdringen, also um sie richtig
zu reflektieren und damit umzugehen. Obwohl viele Architekten
und Stadtplaner Rationalisten sein wollten, war ihre Aktion mehr
die Sache einer Sozialmystik als die Sache eines rationalen
Wissens der Fakten und eines kohärenten Engagements, dieses
Wissen anzuwenden. Darum haben die moderne Architektur und
Stadtplanung ihre Aufgabe verfehlt, die darin bestand, sich als
Instrument des Fortschritts in die Welt einzuschalten. Dieser
Mißerfolg zwingt deshalb heute dazu, die Frage der sozialen
Verantwortung des Architekten neu zu überprüfen. Unglücklicher-
weise hat dieses unumgängliche Unternehmen einen sehr
schlechten Start gehabt. Anstelle das Übel, das man anzuklagen
vorgibt, bei der Wurzel zu packen, begnügt man sich mit einer
voreiligen Argumentation und versucht sich in starken Sensationen,
in brutalistischer Spontaneität, in phantastischen Visionen und
in technokratischen Prognosen.
Einige Architekten möchten gegen die Abweichungen und
Entwürdigungen der vorherigen Epoche reagieren, indem sie
den geometrischen Formalismus und den blanken Utilitarismus
durch eine emotionale Architektur ablösen wollen. Sie wollen die
Dürre, den Mangel an Beseeltheit, die Monotonie und
Langeweile der rationalistischen Architektur kurieren. Zu diesem
Zwecke verkleiden und komplizieren sie, was die Technik
freigelegt und vereinfacht hat. Viele ihrer Anstrengungen
erinnern an die Extravaganzen des Jugendstils. Das ist kein
Zufall, ihre Werke gründen auf dem gleichen Protestwillen
gegen die technische Zivilisation, der gleichen Absicht,
die schöpferische Individualität zu rehabilitieren und aus der
Architektur wieder eine Kunst zu machen.
Dieser Weg ist eine Sackgasse, weil er nicht zur Wurzel des
Übels führt. Durch Erfindung neuer Formen sind nicht
wahrere, unmittelbarere und tiefere Beziehungen zwischen den
Menschen herzustellen. Das unstete Leben in den modernen
Städten hat tiefere soziale Ursachen als die Form von Gebäuden.
Durch das Errichten von Monumenten — allein die Geschichte
entscheidet, ob es sich um ein Monument handelt oder nicht —
macht man die Menschen nicht glücklicher. Die Selbst-
glorifikation hat nie zum Glück des Menschen beigetragen.
Die Technik läßt sich nicht domestizieren durch Theater in
Insektenform oder ondulierte Flughafengebäude.
Man will die Ingenieure erledigen; stattdessen trägt der Neo-

They imagine it is enough to convince men of the virtues of
their projects for the latter to be put into effect.

This conception of action has invariably proved futile. And by its
very futility it has stultified the sense of social responsibility and
thus fathered on legitimate movements a progeny of bastard
forms of expression. Witness formalism in the architecture of the
twenties and thirties. It arose in large measure from the
architects’ faint inklings of a contradiction existing between
their humanistic idea of industrial civilization and the
commercialism of bourgeois society. Not knowing how to fit their
action to reality, these architects sought to find a solution
in aesthetic terms to the economic and social Problems posed
by the transformation they advocated. They deluded themselves
they could dispense with the historical conditions essential
for the realization of their ideal by engaging in a fervent search
for a new formal language.

It is not for us to sit in judgment on preceding generations. They
worked in the light of their experience pieced out with empirical
observations. And we are indebted to them. But we must concede
that they never attained that degree of scientific abstraction
which is essential for penetrating to the heart of social realities
and thus for truly reflecting them and coming to grips with
them in their entirety. Many architects and city-planners like
to think themselves rationalists, it is true, but their action is
nerved by a social mystique rather than by a rational knowledge
of the facts and a whole-hearted desire to put that knowledge
to work. This is why modern architecture and city-planning have
failed in their task, which was to bring their influence to bear
as Instruments of progress in the modern world. This failure
obliges us today to re-examine the question of the architect’s
social responsibility. Unfortunately a poor start has been made
on this vital enterprise. Instead of going to the roots of the
evil which they purport to denounce, architects have rushed in
with hasty arguments and drugged themselves with stiff doses
of stark Sensation, brutalist spontaneity, fanciful Vision and
technocratic prediction.
Some architects react to the obliquities and degradations of the
immediate past by setting emotional architecture in the place
of geometric formalism and forthright utilitarianism. They aim to
remedy the aridity, the humdrum, the monotony, and the tedium
of rationalist architecture. And to this end they disguise and
complicate what technology had stripped and simplified. Many
of their efforts recall the excesses of Art Nouveau. Nor is this
merely a coincidence. They spring from the same desire to
Protest against technological civilization, from the same Intention
to rehabilitate Creative individuality, and to restore to architecture
its Status as an art.

This leads nowhere at all because it does not get at the root
of the evil. Greater truth, directness and depth cannot be given
to human relations by the invention of novel forms. The aberrations
of modern city life have deeper social causes than the shape
of the buildings. The erection of monuments — and only history
can decide what is a monument and what is not — will add
nothing to human happiness. Self-glorification has never made
men happy. Technology cannot be domesticated by putting
up lepidopterous theatres and sinusoidal airport buildings. Far
from settling the hash of the engineers, Contemporary
Baroque emphasizes their triumph. What is the use of impugning
the formal schematics of the rationaliste if one leaves unassailed

28
 
Annotationen