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H 2V4
Zwelte Ausgabe.
Mittwoch de« 28. Mi 1888.
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Jm Mittagsfeuilleton beginnt im August eine der bestcn neueren Erscheinungen der augenblicklich so hoch
stehenden dänischen Romanlitcratur, der Roman
„Mutter irnd Sohn"
von Kenriette Wielsen.
Derselbe ist dmch Originalität dcr Handlung wie feine Charakteristik ausgezeichnet und ist die von der Ueber-
'berin, der Tochter deS berühmten Uebersetzers der „Frithjofsage" Gottfried v. Leinburg, veranstaltete Uebertragung in'S
Dcuisch- dic erste in Deutschland erschienene.
Elberfeld im Juli 1886. AttlSg ök? „Elhktfkldtt ZttWg".
Enchält u. a.:
Staat und Gesellschaft VII. — Die Bayreuiher Fest-
spiele III. — Das 500-jährige Jubiläum der UniverfltSt
Heidelberg I. — Dle Galawagen Ludwig's II. — Die
Versammlung der neuen englischen Regierungspartei im
Carltonklub. — Die Unruhen in Amsterdam. — Gewitter
mit Schneefall im Graubündner Hochland.
Staat und Gescltschast.
VII.
L Die Ausdchnung des MarkteS hängt von der
Möglichkeit ab, die Waare von dcm Orte der Erzeugung
an den Ort des Avstausches (Markt im örtlichen Sinne)
und von hier an den Ort deS BedarfS, oder unmittelbar
von dem ersten an dm letzten zu schaffm. Dicse Fort-
schaffung (Transport) der Waare ist eine Arbeitsleistung,
welche zu den vorausgegangenen Arbeiten der Erzeugung
hinzutritt, um das Erzeugniß für die unmittelbare Nutzung
fertigzustellen. Diese Arbeit erhöht also den Werth des
Erzeugnisies, insoweit sie wirthschaftlich nothwendig war,
d. h. insofern nicht die gleiche Waare mit eincm giringeren
Transportaufwande an den Ort deS Marktes und des
BrdarfS geschafft werden konnte. Wcnn die Einwohner
einer Stadt zu ihrer Ernährung alleS überschüsfigm Ge-
treideS bedürfen, welcheS in cinem Umkreise bis zu 100
Kilomrter Halbmesser gezogen werden kann, so ist der
Transport auch des an der äußersten Grenze dieseS KreiseS
gezogenen GetreideS auf den Markt dieser Stadt noch
wirthschaftlich nothwenrig: er bestimmt also den Werth deS
GetreideS aus diesem Markte (Theinen'scheS Gesetz). Wollte
Jemand von einem wciter entfernten Orte Getreide auf
diesen Markt bringen, so würde der Transport desielben
biS zur äußerstm Grenze des Kreises den Werth der
Waare nicht mehr erhöhen, er würde als eine wirthschast-
lich nicht nothwendige Arbeit eine entsprechende Vermin-
derung dcs Werthes am Orte der Erzeugung bedingen.
Jede Verminderung der Transportschwierigkeiten durch
verbesserte TranSportmittel bewirkt eine verhältnißmäßige
Ausdehnung deS Marktes, welcher jedoch, wenn nicht in
gleichem Verhältnisse der Bedarf des Marktes sich ver-
mehrt, auf Seiten deijenigen Produzentm, welche sich des
neuen Transportmittels nicht bediencu können, eine ent-
sprechende Emschränkung gegenüberstehcn wird. Wenn nach
der Stadt, welche das Schema des Theinen'schen Gesetzes
bildet, von ciner Seite eine Eisenbahn gesührt wird, auf
rvelcher sich die TranSportkosten zu einem Biertel des Trans-
BayreutlitrMWele.
iii.
P a r s i f a l.
X Bayreuth 27. Juii.
Bereits in meinem gestrigen Berichte trat ich der
Meldung einzelner wohlwollender deutscher Preßorgane,
welche nichts freudiger begrüßen würden, als wenn die
hiesigen Festspiele, um deren Besttz unS die Musikfreunde
anderer Nationen beneiden, zu denen Hörlustigc Lber den
Ozean herbeieilen, zerfallen würden, cntgegen, der Meldung
nämlich, daß Parsifal an Lie Bühnen freigegeben werden
solle. Und heute, nachdem ich dieses Bühnenweihfestspiel
wieder gesehen und gehört, nachdem dieses wundrrbare
Mysterium wieder vor meinen Augen und Ohren in Er-
scheinung getreten ist, scheint eS mir unbegreiflich, wie
überhaupt Jcmand, der einer Aufführung des Werkes
jemals beiwohnte, der dem Berichte aufrichtiger Referenien
über den Charakter der letzten Wagner'schen Schöpfung
Glauben schenkt, ein solcheS Gerücht verbreiten oder sich
von ihm bethören lasien kann.
Eine nur einigermaßen stilgerechte Wicdergabe des
Parsifal bleibt bei unseren gegenwärtigen Theaterverhältnissen
eine Unmöglichkeit. Zwischen Troubadour und Afrikanerln
läßt stch ein mit den höchsten philosophisch-religiösen Fragen
stch beschäftigendeS Weihespiel nicht einschieben und die land-
läufigen Bühnenkünstler werden — soweit sie nicht berufen
waren, in Bayreuth mitzuwirken (wodurch ste allerdings
berechtigt wurden, stch des EpithctonS „landläufig" zu ent-
ledigen) — die Eigenart dcr handelnden Personm nie
richtig zu treffcn und wiederzugeben im Standc sein.
Es ist eine Freude zu sehen, mit welcher Pflichttreae
hier auf die Befolgung der Vorschriften des vcrewigten
Meisters gehalten wird, wie auch der Hörerschaft sich jener
Ernst, der die Ausführenden crfüllt, bemächtigt. Hier vor
cinem „Parquet" von Kunstgenossen, vor den hervor-
ragendsten Autoritäten der produzircnden und reproduziren-
den Kunst, vor Kollegm, welche die Partien zum Zweck
der jeder etwaigen Störung begegnenden Alternirung gleich-
zeitig urter dcn berufensten Kapazitätm studirten, ist jede
Koulisiemeißerei, jedes auf dcn Hof- und Stadtbühnen nur
zu leicht geduldete Mätzchen uamöglich; in dem an-
daucrnden Wechselverkehr von Kennern würde dem Dar-
steller, der hier etwa Applausdrücker introduziren wollte,
der Standpunkt gar bald klar gemacht werden. So bleiben,
zumal ein herrliches Orchester, die ersten Bühnentechniker
und Dekorateure, die besten Hülsskräfte am Ganzen mit-
wirken, die Bayreuther Aufführungen Normaldarstellungen
und vor Allem, sowcit fie den Parsifal betreffen, unnach-
poris auf der Achse stellen, so rückt plötzlich die äußerste
Grenze dcr wirthschaftlichen Versorzung deS MarktcS bci
gleichbleibendcm Bedarf längs der Eiscnbahn bis auf 200
Kilometer hinauS, während sie gleichzeitig nach der cnt-
gegengesetzten Scite auf 50 Kilometer sich zusammcnzieht,
und der Verlauf der Grenze nimmt eine clliptische Gestalt
an, in deren einem Brennpunkte nun die Stadt, wie früher
im Mittelpunkt des Kreiies, liegt.
Mit jeder Ausdehnung des MarkteS würde indeß eine
Abnahme seiner Beweglichkeit, d. h. der Schnelligkeit und
Sicherheit, mit welcher der Austausch sich vollzieht, glcichen
Schritt hatten, so lange Produzenten und Konsumenten
allcin ausetnander angewiescn stnd. Jn dem geschloffenen
Wirthschaftskrcise ciner größeren Landgemeinde kennt der
Ackerbauer dm Müller, Bäcker und Schlächter, die sein
Getreide und Vieh in genießbare Lebensmittel, den Weber
und Schneider, den Gerber und Schuster, die seine Wolle,
seinen Flachs und seine HSute in Kleidung umwandeln,
den Wagner und Schmied, den Tischler und Töpfer bei
denen er seine Wcrkzeuge und Geräthschaften eintauscht,
endlich den Maurer und Zimmermann, die ihm Haus und
Scheune herstellm. Er weiß sie jederzeit leicht zu finden
und kann ihre Bedürfnisse berechnen. Diese Sicherheit hört
auf, wenn er genöthigt ist, einen Uebcrschuß semer Erzeug-
nisse in eine entlegene Stadt zu fchaffen. Je größer die
Zahl derjenigen ist, die dort zum AuStausch auf dem Markt
zusammenkommen, desto schwieriger wird es, daß jeder
Produzcnt gerade dcnjenigen Konsumenten trifft, der Brdarf
nach sciner Waare hat und zugleich als Produzent in der
Lage ist, eine werthenisprechende Waare seines Bedarfs m
Tausch zu gebm. Je schwächer dagegen der Markt besucht
ist, desto größer wird die Gefahr, daß der Produzmt für
einen Theil seiner Waarc keinen Abnehmer und der Kon-
sument für einen Theil seiner Bedürfnisse keine Befriedi-
gung findet, sodaß ein Theil der Transportkostm und deS
ZeitaufwandeS für den Besuch des Marktes verloren wird.
Dieser Aufwand und Verlust, soweit er wirthschaftlich noth-
wendig war, d. h. so weit er nicht nach dem Durchschnitts-
maß wirthschaftlicher Berechnung zu vermeiden war, bildet
einen neuen Zuschlag zu dem Wcrthe der gctauschten
Gegenstände bis zu deren Fertigstellung für den unmittcl-
barm Gebrauch. Dicser Zuschlag muß sich verringcrn,
wenn sich ein Miltelsmann findet, der die Erzeugniffe aller
Produzentm densclben aus Vorrath abzunehmen bercit und
dadurch in drr Lage ist, einem jedcn als Konsumenten die
Gegenstände seines Bedarfs in Tausch zu geben. So
entsteht die wirthschaftliche Funktion des Handels, dessen
Arbeitsleistung den Werth der Erzeugnisie erhöht, soweit
ahmliche Kunstbethätigungm. Stolz und dankbar müsien
Wir sein, wenn wir sie genießen können.
Eine Steigerung auf der im Parstfal von seinem
Schöpfer cmgeschlagencn Bahn läßt sich nicht mehr denken.
Hier tritt Wagner von der Bühnc in den Tempel: sein
Weihfestspicl bleibt in der That die weihevolle Krönung
der Reihe seiner zur dramatisch-musikalischen Aufführung
bestimmten Wcrke. Die Mustk scheint episodenweise gleich-
sam der Sphäre deS irdischen Empfindens zu entschweben
und in Regionen zu treten, in welchen uns daS kaum
Geahnte offenbar werden. will. Da wird Kunst Religion.
Diese gewaltigm Fanfarm des GlaubensthemaS bei den
Mysterien des Gralsdienstes, diese cinsache, rührende musi-
kalische Jnterpretation der Abendmahlsformel, haben sie nicht
bereits daS Herz materiellster Materialisten erschüttert,
haben sie nicht dort Thränen entlockt, wo jedem Gcdanken
an Ueberirdisches Gleichmuth und Sprödigkeit zu brgegnen
pflegte? Jene unendlich fromm-liebliche Wcise des Char-
freitagszaubers, erschließt sie nicht ein Gebiet der Poesic,
wie es die musikalisch-dramatische Kunst nimmer kannte?
Wer will von dem, was das Gemüth erschüttcrte, was die
Seele durchzitterte, dem Verstande in Worten Schilderung
geben? Hören, hören: das ist der einzige von meinen
schwachen Kräften erfindliche Rath für denjenigen, welcher
über die Wirkung solcher Aeußerungen des höchsten künst-
lerischen Gottesgnadevthums Ausschluß erhalten will.
Und neben jenen tiefcrnsten Momenten diese sonnige
Heiterkeit des zweiten Theiles des zweiten AkteS, die seit
Mozart erst hier wiedergefundene halb naive, halb lüsterne
LiebeStändelei, wie sie uns in der Szme der Blumen-
mädchen entgegeniritt. Jch kann hier unmöglich den
halben Klavierauszug abschreiben, und muß dahcr, um
den, der bis jetzt behauptete, so eigentlich melodienreich
musikalisch — nämlich nach dem Begriffe deS voraus-
gesetzten Urtheilers über „melodienreiche Musik" — sei Richard
Wagner nicht gewesen, vom Gegmtheil zu überzeugen,
rathen, einm Vlick in den Klavierauszug xaZ. 136 und ff.
zu thun und von diesem Gesaug der kosenden Mädchm
Kenntniß zu nehmen. Der geht doch noch ctwaS über den
Trompeter von Säkkingm.
Verständigerweise läßt man hier die Kapellmeister
nicht in der Leitung der beiden für die diesmaligen Fest-
spicle bestimmten Wcrke alterniren: wie Mottl ausschlicßlich
den Tristan, so dirigirt Levi einzig und allein den
Parsifal. Und für diesen wird er, der bereitS zu des
Meistrrs Lebzeiten mit der Führung des ganzen Reproduk-
tionsapparates betraut war, dcr klasstsche Leitcr bleiben;
wie cr die Tradition erhält, kann bei den jetzigen Auffüh-
rungen von Neuem bcobachtet werden.
sie wirthschafttich nothwendig ist, d. h. soweit Produzmt
und Konsument nicht mit geringercm Auswande zum Aus-
tausch gelangcn können.
Jndem Transport und HandelSproduktion Kräfte zur
Thätigkeit anregen, die sonst unverwendet bleiben würden,
weil es ihren Erzeugnissen an Wnehmern fehlm würde,
läßt flch in diesem Sinne sagen, daß sie Werthe schaffen,
also selbst produktive Thätigkeiten sind; dagcgcn ist es
grobcr Mißverstand, ihnen die Weithcrhöhung, welche
durch ihre Thätigkeit bcdingt ist, als Vermehrung des
wirthschaftlichcn ReichthumS anzurechncn. Auch abgesehen
von diesem Fehler hat die Freihandelsschule, indem sie die
wirthschaftlichen Vortheile von Trausport und Handel
ausschweifend erhob, ganz die Kehrseite vergeffen, daß
beide nur eine bedingte wirthschaftliche Nothwendigkeit
haben. Wenn sie statt den Produzenten mit dem Konsu-
incntm zu verbinden, vielmehr beide verhindern auf dem
nächsten Wege znsammenzukommen, so verwandelt sich der
Vortheil in wirthschastltchen Verlust, indem die produktiven
Kräfte, die unnöthiger Weise in Handel und Transport
beschäftigt sind, dadurch an produktiver Thätigkeit vcrhindert
werdcn, glcichviel ob dcr Produzent oder Konsument oder
beide miteinander die Kosten der Werthcrhöhung der ge-
tauschten Waaren zu tragen habcn. Es gilt daher schon
rein wirthschaftlich, was Carcy obwohl in unklarcr Ver-
mischung mit Vorstellungcn von gescllschaftlicher AuS-
beutung des Handels und des von ihm in die Hand ge-
nommenen Transports sagt: „ste sind nützlich, insofern fle
nothwendig sinv; allein Alles, was die Nothwendigkeit
ihrer Dienste vermindert, ist ebensogut Gewinn für den
Menschm, wie die Verbefferung jeder andern Maschinerie,
welcher Art sie auch sei.*
Der Jrrihum der Freihandelslehre in der Schätzung
des HandelS wird zum w-mden Punkte der Frrihandels-
politik. Nehmen wir deren Grundsatz der „freien Kon-
kurrenz" beim Wort, so müßte der deutsche Baumwollen-
weber dem cnglischen auf dem englischen Markte ebenso gut
Konkurrenz machen wie dieser jenem auf dem deutschm
Markte. Die Waare beider würde dann nothwendig mit
der Wertherhöhung sür das belaflet, was jeder der Kon»
kurrmten seinen Kommissionaren, Agcnten, Handlungs-
reisenden und anderen Zwischenmännern für ihre Thätigkeit
abzugeben hat, sowie sür die Transportkosten der eincn
Waare von Deutschland nach England und der andcren in
der umgekehrten Richtung. Bei gleichen WirthschaftS-
bedingungen ist cs dahcr schlechthin sinnlos, daß eincr der
Konkurrenten die Waare im Auslande sollte billiger aus-
tauschen können als im Jnlande, vielmehr ist in diesem
Falle ülles, was die Zwischenmänner und Transportleute
erhalim, schlechthin wirthschaftlicher Verlust, weil wirth-
schaftlich nicht nothwcndige Arbeit, gleichviel ob diesen Ver-
lust die Konsumenten durch Vertheuerung der Waare over
die Produzenten durch Verminderung ihres Arbeitsertrags
zu erleiden haben oder beide stch darein theilen. Jn der
That aber weiß der Freihändler am besten, daß dieWirth-
schastsbedirgungen der Konkurrcntm nicht glcich sind, daß
der Engländcr dem Deutschen an Vollkommenheit der
Maschinen, an eniwickelterer Arbeitstheilung vermöge
größerer AuSdehnung dcs Betriebs, an Geschicklichkeit der
Arbeiter — abgesehen noch von allm gesellschaftlichen Vor-
theilen — weit voraus ist. Er läßt also nicht nur den
deutschen Mitbewerber nicht auf dem englischen Markte auf»
kommen, er schlägt ihn auch auf dem deutschm Markt und
verhindert ihn so, jemals in stetmi wirthschastlichem Fort-
schritte den Vorsprung einzuholen, den jener einmat vor ihm
hat. Er verhindert damit aber zugleich den deutschen
Konsumenten, die Waare jemals so billig zu erhalten, wie
er ste bei voll entwickelter einheimischer Jndustrie crhalten
würde. Unter allen Umständen, auch wenn der Ausländer
! sein durch Vernichtung dieser Jndustrie errungeneS Monopol
nicht zu beliebiger Steigemng ausnutzen sollte, trägt der
deutsche Konsument die Kosten des ZwischmhandelS und
des Transports der englischen Waare, «r hat aber alle
Aussicht, sie für die in Tausch gegebene eigene Waare nach
dem von dem englischen Freihandel so finnreich erfundenen
und von dem dmtschen Freihandel so abcrwihig nach-
gebeteten System der „internationalen Arbeitstheilung"
noch eiamal zu tragen. Viele Jahrzehnt« hat dieS Ver-
hältniß zwischen Englarid und dm deutschen Nord- und
Ostseeländern bestandm, ursprünglich, weil diese auf die
See ais den günstigsten Transportweg für ihre Ackerbau-
erzcugnisse angewiesen waren, dann bis 1878 mit deutsch-
doktrinärer Harinäckigkeit festgehalten, auch nachdem die
Vcrkehrsverhältnisie sich wesentlich verschoben hatten. Der
Preis des Gctreives wird in London alS dem Weltmarkte
festgestellt und der deuische Landwirth, der auf diesem
Markte Konkurrcnten findet, die durch ungleich günstigere
Produktionsbedingungen — entsprechend wirkmd wie in
dem Schema des isolirten Staates die Eisenbahn — die
größeren TranSport^chwierigkeiten überwinden, muß die
Kosten deS Handels und Transports auf sich nehmen, um
nur noch Absatz zu finden. Kommt dann von England die
Nückfracht in Eisen, Kohle, Baumwolle u. s. w., so bezahlt
derselbe Landwirth auch auf diese Waaren in der guten
Meinung, sie billiger zu erhalten als im Jnlande, die
Kosten des Handels und Transports, indem er nach besten
Kräftm hilft, die einheimische Jndustrie nicderzuhalten, deren
Entwickelung die doppeltcn Kosten ersparen würde.
Dasselbe Verhältniß wieverholt sich übrigenS, wenn
auch in kieinerem Maßstabe, zwischen verschiedmeir Land-
schafien eines Staatsgebiets. Jm Kleinen wie im Großm
crgibt sich schon an dieser Stelle, daß Transport und
Handel gut sind, wenn sie Produzenten und Konsumenten
zusammenführen, daß cs aber besier ist, werm beide dadurch
entbehrlich werdcn, wenn der Produzent und Konsument
neben einander wohnen und in unmittelbaren Austausch
treten können. Hier handelt es sich nur darum, die Be-
deutung dieser WirthschaftSfunktionen an naheliegendm Bei-
spielen klar zu stellen, die praktischen Folgerungen werden
erst an anderer Stelle gezogen werder. können.
Vsn der BaLkanhalbinsel.
^ Nisch 27. Juli.
Dte neue Skuptschtina ist"helltk_durch Verlesung einer
Ukas des Königs eröffnet worden. Jn das PMdium und dm
Berifikatisnsausschuß wurden durchweg AbgeordnSi«—pon der
Regierungspartei gewählt. Der König bestätigte PavlowitsHMs
Präsidenten und Zunitsch als Vizepräsidenten.
Die nordscholtischen Pächterunruhen.
m London 26. Juli.
Die Unruhen unter den Kleinbausrn (oroktors) auf der
schottischm Jnsel Tiree scheinen bedenkliche Ausdehnung an-
zunehmm. Der Versttch, den Streit zwischeu den Grundherrm
und den Crofters aus gntlichr Weise beizulege», ist mttz»
glückt, sodaß jetzt zu Gewaltmaßregeln geschritten werdm muß.
Die dorthin gesaudtm Polizetkonstabler und die Kommisiäre
verbrachten die Nacht zum Donnsrstag in dem Scarinisher Gast«
hause. WSHrend d-r ganzen Zeit wurde das Gebäude von eiuer
Abtheilung Crofters überwacht, damit nicht unter dem Deck-
mantel der Dunkelheit Pachtkündigungen oder gerichtliche Bor-
ladungen behändigt würden. Am Donnerstag hieltcn die CrofterS
ein von etwa 1200 Psrsonen besuchtes Maffenmeeting in der
Nähe vou Scarinish, in dem eiue Resolntion zur Annahme
gelangte, welche die Polizei ersuchte, sich so schnell ats mög»
lich von der Jnsel zu entfernen, wenn sie unliebsame Folgeu
zu vermeiden wünsche. Am Schlusie des Meetings marschirtm
800 Mann unter Führung vou zwei Pseifern nach dem Gast-
hause, um die Resolution abzuliefern. Sie umringten das Haus,
schwangen ihre Knüttel und ersüllten die Lust mit ihrem Geschrei.
Sie forderten die Polizei zum Kampfe heraus, aber diese wurdx
vorsichtig im Hause gehaltm. Der Pöbel lärmte vor dm Thüreu
Die gestrige Besetzung brachte gegen den ersten Abend
in drei Haupirollen Aenderungen. An Stelle von Therese
Malten trat Amalie Materna als Kundry ein; dic
von Hermann Winkelmann gegebene Titelpartie übernahm
Heinrich Gudehus und Klingsor wurde statt von
Scheidemantel von FriH Plank gegeben.
Jn erster Linie ist da des gestrigen Vertreters des
Parstfal zu gedenken. Herr GudehuL schlug Accente an,
wie man sie in der Darstellung dieser Rolle wohl noch
nicht gehört hat; er zeigte sich mit dem Charakter des
Hclden so tief vertraut, daß eine lebendige dcn Eindruck
des sogenannten „Theatralischen" völlig abstreifende Jnter-
pretation crwirkt wurde. Jm ersten Akt und zu Anfang
der wahrhaftigste „rcine Thor" war er von dem Moment
der Erkenntniß deS Wesens der Amfortaswunde ab der
seine Mission völlig erfaffende zur Entsündigüng des siechen
Königs beiuferie Erlöscr. Jn dem gewaltigcn Aufschrei
„Amfortas" nach dem Kusie der Kundry erwieS fich
GudehuS im Besttze großartigstcr dramatischer Gestaltungs-
kraft. Und dabei floß die Stimme silberklar und mächtig
zugleich, jeden Moment der Rolle beherrschend, dahin.
Man stand vor einer künftlerischen That.
Jn übcrraschender Weise zeigte sich auch das Organ
der Frau Materna, desien während der letzten Jahre
geschehene Ueberanstrengung über die weitere Qualifikation
der Sängerin für die Bayreuther Jnterpretation Zweifel
aufkommen lasien wollte, der gestellten Aufgabe gcwachsen.
Jm Spiel, wie bei ihr nicht anders erwartet, tiefstes Ver-
ständniß für die schwierige Rolle und großarttge Auffassung
derselben bekundend, crfüllte ste auch gesanglich jedeS Er-
forderniß und bestand die neue Prüfung auf der Welt-
bühne, wie man das Bayreuther Festspielhaus heutzutage
wohl bezeichnen darf, ausgezeichnet.
Durch Herrn Plank's mächtigen Bariton kam
Klingsors Zauberspruch großartig zur Geltung. Seit
Hill ist eine solche Darstellmig dieser Rolle, wie sie dnrch
den trefflichen KarlSruher Hofopernsänger gestern geschah,
nicht mehr zu Tage getreten.
Wie in den Vorjahren singt Theodor Reich-
mann (diesmal allerdings mit Eugen Gura altcrnirend)
den Amfortas. Das wundervolle Material des Künstlers
hat an Fölle noch zugenommen, absolute Reknheit der Jn-
tonation fehlt ihm indeß wie ftühcr. Es will mir scheinen,
als ob für diese dankbare Partie noch bessere Jnterpreten
gefunden werden könnten.
Auch Herr Siehr hat mit der sich vielen tiefen
Bäsien entgegenstellenden Schwierigkeit, stets den völlig
reinen Ansatz zu finden, zu kämpfen. Aber Herr Siehr
ist ein durch und durch vornehmer Sänger, ein echter
Künstler, welcher den Gurnemanz, abgcsehen von einzelnen
Beobachtungen bezeichneter Art, ganz vortrefflich gibt und
welcher der beste Ersatz für den in dieser Partie so außer-
ordentlich glücklich gewesenen Scaria bleibt.
Ganz reizend, in der Klangwirkung wohl noch glück-
licher wie ftüher, war der Chor der Blumcnmädchen. An
der Spitze dieser 30 an Bühnen von ganz Deutschland
auSgesuchten schönstimmigen Damen stchen scchs an der
Stätte ihrer sonstigen Wirksamkeit als erste jugendliche
Sängerinnen engagirte Künstlerinnen, darunter Fräulein
Fritsch und Frau Reuß - Belce vom Hoftheater in
Karlsruhe, Fräulein Sieber vom Hoftheater in Kassel
und Fräulein Kauer vom Hamburger Stadttheater. Da
läßt sich allerdingS eine köstliche Wirkung erzielen. Für
die Vorbereitung dieses weiblichen Chores gebührt Herrn
Mustkvirektor Porges besonderes Lob.
Die verschiedenartigen in den Gralsszenen auftretenden
Chöre der Ritter, Zünglinge und Knaben kamen ebenfalls
musterhaft zu Gehör. Und das Orchester — unvergleichlich.
Die prachtvolle Jnszenirung erregte auch diesmal
wieder Bewunderung, die Wandeldekorationen arbeiteten
trefflich. Jn der Kostümirung ist bei den Blumenmädchen
eine sehr günstige Aenderung eingetreten, im Ucbrigen ist
AlleS wie in den Jahren 1882—1884.
Die nächste Tristanaufführung geht mit Therese Mal-
ten (Jsolde) und Gudehus (Tristan) am Donnerstag vor
sich, Freitag folgt Parsifal mit Materna und Vogl, Sonn-
tag Tristan mit Rosa Sucher und GudehuS, Montag
Parsifal mit Malten und Vogl.
Für das nächste Festspieljahr, mag eS nun 1887 oder
1888 heißen, wird eine Musteraufführung der „Meister-
singer" geplant. Es ist nicht zu zweifeln, daß diese Jdee
gleichen Anklang finden würde, wie die der Einführung dcs
Tristan in's Bayreuther FestspielhauS.
_ L. L,. jr.
Das sünshundertjährige Iubiläum
der Univerfität Heidewerg.
i.
Heidelberg 26. Juli.
Er ist also wirklich gekommen der lang ersehnte, lang
besprochene Zeitpunkt I Fast erscheint eS unbegreiflicki, daß,
waS den Heidelbergern seit Jahrzehnten in vagem Schimmer
durch die undurchdringlichen Nebel Äer Zukunft entgegen-
leuchtete, nun mit einmal in fester Gestalt hervortreten, in
dem blendenden Glanz greifbarer Wirklichkeit stch ihnen
zeigen soll.
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R. Mossc. M ün stew Ang. Roles. Nrutz: I. van Haag. P a ri«: Haras, Lasfile st Co., I-Iace ck« InLvur«« «. R em iche id:
H. Krumm. Ro tlerram: Rijgh st «an Ditmar. Echwelm: G-br. DoSwuikel. Solingen: Otio Aldert, L, Piciffer,
E. iarich. Wieut Haasenstct» L Llogler. Wiltcn; S. L. Krügcr» Zürtch: Orell Füßlt » C».
Aborrnemeirts-MnLadrtiig M Angust und Leptember.
MM' Wir eröffnen für die Monate August und Septembee ein Abonnement auf die
„Elberfelder Zeitung"
Mittag- und Wend'Ausgabe. (Erscheint wöchentlich 12 Mal.)
Der Post-Abonnementspreis für Auswärts beträgt für zwei Monate 5 Mark 11 Pf., m der Elberfelder
Expedinon sowie in der Agentur R. Hocck n e r (Herzogstraße 44) und in Barmen A. Gräper (W. Langewiesche's
Buch- und Kunsthandlung, Wertherstraße 18) 4 Mark 50 Pf. Die Jnsertionsgcbühren betragen die einspaltige Zeile
sder deren Raum 30 Pf.
Jm Mittagsfeuilleton beginnt im August eine der bestcn neueren Erscheinungen der augenblicklich so hoch
stehenden dänischen Romanlitcratur, der Roman
„Mutter irnd Sohn"
von Kenriette Wielsen.
Derselbe ist dmch Originalität dcr Handlung wie feine Charakteristik ausgezeichnet und ist die von der Ueber-
'berin, der Tochter deS berühmten Uebersetzers der „Frithjofsage" Gottfried v. Leinburg, veranstaltete Uebertragung in'S
Dcuisch- dic erste in Deutschland erschienene.
Elberfeld im Juli 1886. AttlSg ök? „Elhktfkldtt ZttWg".
Enchält u. a.:
Staat und Gesellschaft VII. — Die Bayreuiher Fest-
spiele III. — Das 500-jährige Jubiläum der UniverfltSt
Heidelberg I. — Dle Galawagen Ludwig's II. — Die
Versammlung der neuen englischen Regierungspartei im
Carltonklub. — Die Unruhen in Amsterdam. — Gewitter
mit Schneefall im Graubündner Hochland.
Staat und Gescltschast.
VII.
L Die Ausdchnung des MarkteS hängt von der
Möglichkeit ab, die Waare von dcm Orte der Erzeugung
an den Ort des Avstausches (Markt im örtlichen Sinne)
und von hier an den Ort deS BedarfS, oder unmittelbar
von dem ersten an dm letzten zu schaffm. Dicse Fort-
schaffung (Transport) der Waare ist eine Arbeitsleistung,
welche zu den vorausgegangenen Arbeiten der Erzeugung
hinzutritt, um das Erzeugniß für die unmittelbare Nutzung
fertigzustellen. Diese Arbeit erhöht also den Werth des
Erzeugnisies, insoweit sie wirthschaftlich nothwendig war,
d. h. insofern nicht die gleiche Waare mit eincm giringeren
Transportaufwande an den Ort deS Marktes und des
BrdarfS geschafft werden konnte. Wcnn die Einwohner
einer Stadt zu ihrer Ernährung alleS überschüsfigm Ge-
treideS bedürfen, welcheS in cinem Umkreise bis zu 100
Kilomrter Halbmesser gezogen werden kann, so ist der
Transport auch des an der äußersten Grenze dieseS KreiseS
gezogenen GetreideS auf den Markt dieser Stadt noch
wirthschaftlich nothwenrig: er bestimmt also den Werth deS
GetreideS aus diesem Markte (Theinen'scheS Gesetz). Wollte
Jemand von einem wciter entfernten Orte Getreide auf
diesen Markt bringen, so würde der Transport desielben
biS zur äußerstm Grenze des Kreises den Werth der
Waare nicht mehr erhöhen, er würde als eine wirthschast-
lich nicht nothwendige Arbeit eine entsprechende Vermin-
derung dcs Werthes am Orte der Erzeugung bedingen.
Jede Verminderung der Transportschwierigkeiten durch
verbesserte TranSportmittel bewirkt eine verhältnißmäßige
Ausdehnung deS Marktes, welcher jedoch, wenn nicht in
gleichem Verhältnisse der Bedarf des Marktes sich ver-
mehrt, auf Seiten deijenigen Produzentm, welche sich des
neuen Transportmittels nicht bediencu können, eine ent-
sprechende Emschränkung gegenüberstehcn wird. Wenn nach
der Stadt, welche das Schema des Theinen'schen Gesetzes
bildet, von ciner Seite eine Eisenbahn gesührt wird, auf
rvelcher sich die TranSportkosten zu einem Biertel des Trans-
BayreutlitrMWele.
iii.
P a r s i f a l.
X Bayreuth 27. Juii.
Bereits in meinem gestrigen Berichte trat ich der
Meldung einzelner wohlwollender deutscher Preßorgane,
welche nichts freudiger begrüßen würden, als wenn die
hiesigen Festspiele, um deren Besttz unS die Musikfreunde
anderer Nationen beneiden, zu denen Hörlustigc Lber den
Ozean herbeieilen, zerfallen würden, cntgegen, der Meldung
nämlich, daß Parsifal an Lie Bühnen freigegeben werden
solle. Und heute, nachdem ich dieses Bühnenweihfestspiel
wieder gesehen und gehört, nachdem dieses wundrrbare
Mysterium wieder vor meinen Augen und Ohren in Er-
scheinung getreten ist, scheint eS mir unbegreiflich, wie
überhaupt Jcmand, der einer Aufführung des Werkes
jemals beiwohnte, der dem Berichte aufrichtiger Referenien
über den Charakter der letzten Wagner'schen Schöpfung
Glauben schenkt, ein solcheS Gerücht verbreiten oder sich
von ihm bethören lasien kann.
Eine nur einigermaßen stilgerechte Wicdergabe des
Parsifal bleibt bei unseren gegenwärtigen Theaterverhältnissen
eine Unmöglichkeit. Zwischen Troubadour und Afrikanerln
läßt stch ein mit den höchsten philosophisch-religiösen Fragen
stch beschäftigendeS Weihespiel nicht einschieben und die land-
läufigen Bühnenkünstler werden — soweit sie nicht berufen
waren, in Bayreuth mitzuwirken (wodurch ste allerdings
berechtigt wurden, stch des EpithctonS „landläufig" zu ent-
ledigen) — die Eigenart dcr handelnden Personm nie
richtig zu treffcn und wiederzugeben im Standc sein.
Es ist eine Freude zu sehen, mit welcher Pflichttreae
hier auf die Befolgung der Vorschriften des vcrewigten
Meisters gehalten wird, wie auch der Hörerschaft sich jener
Ernst, der die Ausführenden crfüllt, bemächtigt. Hier vor
cinem „Parquet" von Kunstgenossen, vor den hervor-
ragendsten Autoritäten der produzircnden und reproduziren-
den Kunst, vor Kollegm, welche die Partien zum Zweck
der jeder etwaigen Störung begegnenden Alternirung gleich-
zeitig urter dcn berufensten Kapazitätm studirten, ist jede
Koulisiemeißerei, jedes auf dcn Hof- und Stadtbühnen nur
zu leicht geduldete Mätzchen uamöglich; in dem an-
daucrnden Wechselverkehr von Kennern würde dem Dar-
steller, der hier etwa Applausdrücker introduziren wollte,
der Standpunkt gar bald klar gemacht werden. So bleiben,
zumal ein herrliches Orchester, die ersten Bühnentechniker
und Dekorateure, die besten Hülsskräfte am Ganzen mit-
wirken, die Bayreuther Aufführungen Normaldarstellungen
und vor Allem, sowcit fie den Parsifal betreffen, unnach-
poris auf der Achse stellen, so rückt plötzlich die äußerste
Grenze dcr wirthschaftlichen Versorzung deS MarktcS bci
gleichbleibendcm Bedarf längs der Eiscnbahn bis auf 200
Kilometer hinauS, während sie gleichzeitig nach der cnt-
gegengesetzten Scite auf 50 Kilometer sich zusammcnzieht,
und der Verlauf der Grenze nimmt eine clliptische Gestalt
an, in deren einem Brennpunkte nun die Stadt, wie früher
im Mittelpunkt des Kreiies, liegt.
Mit jeder Ausdehnung des MarkteS würde indeß eine
Abnahme seiner Beweglichkeit, d. h. der Schnelligkeit und
Sicherheit, mit welcher der Austausch sich vollzieht, glcichen
Schritt hatten, so lange Produzenten und Konsumenten
allcin ausetnander angewiescn stnd. Jn dem geschloffenen
Wirthschaftskrcise ciner größeren Landgemeinde kennt der
Ackerbauer dm Müller, Bäcker und Schlächter, die sein
Getreide und Vieh in genießbare Lebensmittel, den Weber
und Schneider, den Gerber und Schuster, die seine Wolle,
seinen Flachs und seine HSute in Kleidung umwandeln,
den Wagner und Schmied, den Tischler und Töpfer bei
denen er seine Wcrkzeuge und Geräthschaften eintauscht,
endlich den Maurer und Zimmermann, die ihm Haus und
Scheune herstellm. Er weiß sie jederzeit leicht zu finden
und kann ihre Bedürfnisse berechnen. Diese Sicherheit hört
auf, wenn er genöthigt ist, einen Uebcrschuß semer Erzeug-
nisse in eine entlegene Stadt zu fchaffen. Je größer die
Zahl derjenigen ist, die dort zum AuStausch auf dem Markt
zusammenkommen, desto schwieriger wird es, daß jeder
Produzcnt gerade dcnjenigen Konsumenten trifft, der Brdarf
nach sciner Waare hat und zugleich als Produzent in der
Lage ist, eine werthenisprechende Waare seines Bedarfs m
Tausch zu gebm. Je schwächer dagegen der Markt besucht
ist, desto größer wird die Gefahr, daß der Produzmt für
einen Theil seiner Waarc keinen Abnehmer und der Kon-
sument für einen Theil seiner Bedürfnisse keine Befriedi-
gung findet, sodaß ein Theil der Transportkostm und deS
ZeitaufwandeS für den Besuch des Marktes verloren wird.
Dieser Aufwand und Verlust, soweit er wirthschaftlich noth-
wendig war, d. h. so weit er nicht nach dem Durchschnitts-
maß wirthschaftlicher Berechnung zu vermeiden war, bildet
einen neuen Zuschlag zu dem Wcrthe der gctauschten
Gegenstände bis zu deren Fertigstellung für den unmittcl-
barm Gebrauch. Dicser Zuschlag muß sich verringcrn,
wenn sich ein Miltelsmann findet, der die Erzeugniffe aller
Produzentm densclben aus Vorrath abzunehmen bercit und
dadurch in drr Lage ist, einem jedcn als Konsumenten die
Gegenstände seines Bedarfs in Tausch zu geben. So
entsteht die wirthschaftliche Funktion des Handels, dessen
Arbeitsleistung den Werth der Erzeugnisie erhöht, soweit
ahmliche Kunstbethätigungm. Stolz und dankbar müsien
Wir sein, wenn wir sie genießen können.
Eine Steigerung auf der im Parstfal von seinem
Schöpfer cmgeschlagencn Bahn läßt sich nicht mehr denken.
Hier tritt Wagner von der Bühnc in den Tempel: sein
Weihfestspicl bleibt in der That die weihevolle Krönung
der Reihe seiner zur dramatisch-musikalischen Aufführung
bestimmten Wcrke. Die Mustk scheint episodenweise gleich-
sam der Sphäre deS irdischen Empfindens zu entschweben
und in Regionen zu treten, in welchen uns daS kaum
Geahnte offenbar werden. will. Da wird Kunst Religion.
Diese gewaltigm Fanfarm des GlaubensthemaS bei den
Mysterien des Gralsdienstes, diese cinsache, rührende musi-
kalische Jnterpretation der Abendmahlsformel, haben sie nicht
bereits daS Herz materiellster Materialisten erschüttert,
haben sie nicht dort Thränen entlockt, wo jedem Gcdanken
an Ueberirdisches Gleichmuth und Sprödigkeit zu brgegnen
pflegte? Jene unendlich fromm-liebliche Wcise des Char-
freitagszaubers, erschließt sie nicht ein Gebiet der Poesic,
wie es die musikalisch-dramatische Kunst nimmer kannte?
Wer will von dem, was das Gemüth erschüttcrte, was die
Seele durchzitterte, dem Verstande in Worten Schilderung
geben? Hören, hören: das ist der einzige von meinen
schwachen Kräften erfindliche Rath für denjenigen, welcher
über die Wirkung solcher Aeußerungen des höchsten künst-
lerischen Gottesgnadevthums Ausschluß erhalten will.
Und neben jenen tiefcrnsten Momenten diese sonnige
Heiterkeit des zweiten Theiles des zweiten AkteS, die seit
Mozart erst hier wiedergefundene halb naive, halb lüsterne
LiebeStändelei, wie sie uns in der Szme der Blumen-
mädchen entgegeniritt. Jch kann hier unmöglich den
halben Klavierauszug abschreiben, und muß dahcr, um
den, der bis jetzt behauptete, so eigentlich melodienreich
musikalisch — nämlich nach dem Begriffe deS voraus-
gesetzten Urtheilers über „melodienreiche Musik" — sei Richard
Wagner nicht gewesen, vom Gegmtheil zu überzeugen,
rathen, einm Vlick in den Klavierauszug xaZ. 136 und ff.
zu thun und von diesem Gesaug der kosenden Mädchm
Kenntniß zu nehmen. Der geht doch noch ctwaS über den
Trompeter von Säkkingm.
Verständigerweise läßt man hier die Kapellmeister
nicht in der Leitung der beiden für die diesmaligen Fest-
spicle bestimmten Wcrke alterniren: wie Mottl ausschlicßlich
den Tristan, so dirigirt Levi einzig und allein den
Parsifal. Und für diesen wird er, der bereitS zu des
Meistrrs Lebzeiten mit der Führung des ganzen Reproduk-
tionsapparates betraut war, dcr klasstsche Leitcr bleiben;
wie cr die Tradition erhält, kann bei den jetzigen Auffüh-
rungen von Neuem bcobachtet werden.
sie wirthschafttich nothwendig ist, d. h. soweit Produzmt
und Konsument nicht mit geringercm Auswande zum Aus-
tausch gelangcn können.
Jndem Transport und HandelSproduktion Kräfte zur
Thätigkeit anregen, die sonst unverwendet bleiben würden,
weil es ihren Erzeugnissen an Wnehmern fehlm würde,
läßt flch in diesem Sinne sagen, daß sie Werthe schaffen,
also selbst produktive Thätigkeiten sind; dagcgcn ist es
grobcr Mißverstand, ihnen die Weithcrhöhung, welche
durch ihre Thätigkeit bcdingt ist, als Vermehrung des
wirthschaftlichcn ReichthumS anzurechncn. Auch abgesehen
von diesem Fehler hat die Freihandelsschule, indem sie die
wirthschaftlichen Vortheile von Trausport und Handel
ausschweifend erhob, ganz die Kehrseite vergeffen, daß
beide nur eine bedingte wirthschaftliche Nothwendigkeit
haben. Wenn sie statt den Produzenten mit dem Konsu-
incntm zu verbinden, vielmehr beide verhindern auf dem
nächsten Wege znsammenzukommen, so verwandelt sich der
Vortheil in wirthschastltchen Verlust, indem die produktiven
Kräfte, die unnöthiger Weise in Handel und Transport
beschäftigt sind, dadurch an produktiver Thätigkeit vcrhindert
werdcn, glcichviel ob dcr Produzent oder Konsument oder
beide miteinander die Kosten der Werthcrhöhung der ge-
tauschten Waaren zu tragen habcn. Es gilt daher schon
rein wirthschaftlich, was Carcy obwohl in unklarcr Ver-
mischung mit Vorstellungcn von gescllschaftlicher AuS-
beutung des Handels und des von ihm in die Hand ge-
nommenen Transports sagt: „ste sind nützlich, insofern fle
nothwendig sinv; allein Alles, was die Nothwendigkeit
ihrer Dienste vermindert, ist ebensogut Gewinn für den
Menschm, wie die Verbefferung jeder andern Maschinerie,
welcher Art sie auch sei.*
Der Jrrihum der Freihandelslehre in der Schätzung
des HandelS wird zum w-mden Punkte der Frrihandels-
politik. Nehmen wir deren Grundsatz der „freien Kon-
kurrenz" beim Wort, so müßte der deutsche Baumwollen-
weber dem cnglischen auf dem englischen Markte ebenso gut
Konkurrenz machen wie dieser jenem auf dem deutschm
Markte. Die Waare beider würde dann nothwendig mit
der Wertherhöhung sür das belaflet, was jeder der Kon»
kurrmten seinen Kommissionaren, Agcnten, Handlungs-
reisenden und anderen Zwischenmännern für ihre Thätigkeit
abzugeben hat, sowie sür die Transportkosten der eincn
Waare von Deutschland nach England und der andcren in
der umgekehrten Richtung. Bei gleichen WirthschaftS-
bedingungen ist cs dahcr schlechthin sinnlos, daß eincr der
Konkurrenten die Waare im Auslande sollte billiger aus-
tauschen können als im Jnlande, vielmehr ist in diesem
Falle ülles, was die Zwischenmänner und Transportleute
erhalim, schlechthin wirthschaftlicher Verlust, weil wirth-
schaftlich nicht nothwcndige Arbeit, gleichviel ob diesen Ver-
lust die Konsumenten durch Vertheuerung der Waare over
die Produzenten durch Verminderung ihres Arbeitsertrags
zu erleiden haben oder beide stch darein theilen. Jn der
That aber weiß der Freihändler am besten, daß dieWirth-
schastsbedirgungen der Konkurrcntm nicht glcich sind, daß
der Engländcr dem Deutschen an Vollkommenheit der
Maschinen, an eniwickelterer Arbeitstheilung vermöge
größerer AuSdehnung dcs Betriebs, an Geschicklichkeit der
Arbeiter — abgesehen noch von allm gesellschaftlichen Vor-
theilen — weit voraus ist. Er läßt also nicht nur den
deutschen Mitbewerber nicht auf dem englischen Markte auf»
kommen, er schlägt ihn auch auf dem deutschm Markt und
verhindert ihn so, jemals in stetmi wirthschastlichem Fort-
schritte den Vorsprung einzuholen, den jener einmat vor ihm
hat. Er verhindert damit aber zugleich den deutschen
Konsumenten, die Waare jemals so billig zu erhalten, wie
er ste bei voll entwickelter einheimischer Jndustrie crhalten
würde. Unter allen Umständen, auch wenn der Ausländer
! sein durch Vernichtung dieser Jndustrie errungeneS Monopol
nicht zu beliebiger Steigemng ausnutzen sollte, trägt der
deutsche Konsument die Kosten des ZwischmhandelS und
des Transports der englischen Waare, «r hat aber alle
Aussicht, sie für die in Tausch gegebene eigene Waare nach
dem von dem englischen Freihandel so finnreich erfundenen
und von dem dmtschen Freihandel so abcrwihig nach-
gebeteten System der „internationalen Arbeitstheilung"
noch eiamal zu tragen. Viele Jahrzehnt« hat dieS Ver-
hältniß zwischen Englarid und dm deutschen Nord- und
Ostseeländern bestandm, ursprünglich, weil diese auf die
See ais den günstigsten Transportweg für ihre Ackerbau-
erzcugnisse angewiesen waren, dann bis 1878 mit deutsch-
doktrinärer Harinäckigkeit festgehalten, auch nachdem die
Vcrkehrsverhältnisie sich wesentlich verschoben hatten. Der
Preis des Gctreives wird in London alS dem Weltmarkte
festgestellt und der deuische Landwirth, der auf diesem
Markte Konkurrcnten findet, die durch ungleich günstigere
Produktionsbedingungen — entsprechend wirkmd wie in
dem Schema des isolirten Staates die Eisenbahn — die
größeren TranSport^chwierigkeiten überwinden, muß die
Kosten deS Handels und Transports auf sich nehmen, um
nur noch Absatz zu finden. Kommt dann von England die
Nückfracht in Eisen, Kohle, Baumwolle u. s. w., so bezahlt
derselbe Landwirth auch auf diese Waaren in der guten
Meinung, sie billiger zu erhalten als im Jnlande, die
Kosten des Handels und Transports, indem er nach besten
Kräftm hilft, die einheimische Jndustrie nicderzuhalten, deren
Entwickelung die doppeltcn Kosten ersparen würde.
Dasselbe Verhältniß wieverholt sich übrigenS, wenn
auch in kieinerem Maßstabe, zwischen verschiedmeir Land-
schafien eines Staatsgebiets. Jm Kleinen wie im Großm
crgibt sich schon an dieser Stelle, daß Transport und
Handel gut sind, wenn sie Produzenten und Konsumenten
zusammenführen, daß cs aber besier ist, werm beide dadurch
entbehrlich werdcn, wenn der Produzent und Konsument
neben einander wohnen und in unmittelbaren Austausch
treten können. Hier handelt es sich nur darum, die Be-
deutung dieser WirthschaftSfunktionen an naheliegendm Bei-
spielen klar zu stellen, die praktischen Folgerungen werden
erst an anderer Stelle gezogen werder. können.
Vsn der BaLkanhalbinsel.
^ Nisch 27. Juli.
Dte neue Skuptschtina ist"helltk_durch Verlesung einer
Ukas des Königs eröffnet worden. Jn das PMdium und dm
Berifikatisnsausschuß wurden durchweg AbgeordnSi«—pon der
Regierungspartei gewählt. Der König bestätigte PavlowitsHMs
Präsidenten und Zunitsch als Vizepräsidenten.
Die nordscholtischen Pächterunruhen.
m London 26. Juli.
Die Unruhen unter den Kleinbausrn (oroktors) auf der
schottischm Jnsel Tiree scheinen bedenkliche Ausdehnung an-
zunehmm. Der Versttch, den Streit zwischeu den Grundherrm
und den Crofters aus gntlichr Weise beizulege», ist mttz»
glückt, sodaß jetzt zu Gewaltmaßregeln geschritten werdm muß.
Die dorthin gesaudtm Polizetkonstabler und die Kommisiäre
verbrachten die Nacht zum Donnsrstag in dem Scarinisher Gast«
hause. WSHrend d-r ganzen Zeit wurde das Gebäude von eiuer
Abtheilung Crofters überwacht, damit nicht unter dem Deck-
mantel der Dunkelheit Pachtkündigungen oder gerichtliche Bor-
ladungen behändigt würden. Am Donnerstag hieltcn die CrofterS
ein von etwa 1200 Psrsonen besuchtes Maffenmeeting in der
Nähe vou Scarinish, in dem eiue Resolntion zur Annahme
gelangte, welche die Polizei ersuchte, sich so schnell ats mög»
lich von der Jnsel zu entfernen, wenn sie unliebsame Folgeu
zu vermeiden wünsche. Am Schlusie des Meetings marschirtm
800 Mann unter Führung vou zwei Pseifern nach dem Gast-
hause, um die Resolution abzuliefern. Sie umringten das Haus,
schwangen ihre Knüttel und ersüllten die Lust mit ihrem Geschrei.
Sie forderten die Polizei zum Kampfe heraus, aber diese wurdx
vorsichtig im Hause gehaltm. Der Pöbel lärmte vor dm Thüreu
Die gestrige Besetzung brachte gegen den ersten Abend
in drei Haupirollen Aenderungen. An Stelle von Therese
Malten trat Amalie Materna als Kundry ein; dic
von Hermann Winkelmann gegebene Titelpartie übernahm
Heinrich Gudehus und Klingsor wurde statt von
Scheidemantel von FriH Plank gegeben.
Jn erster Linie ist da des gestrigen Vertreters des
Parstfal zu gedenken. Herr GudehuL schlug Accente an,
wie man sie in der Darstellung dieser Rolle wohl noch
nicht gehört hat; er zeigte sich mit dem Charakter des
Hclden so tief vertraut, daß eine lebendige dcn Eindruck
des sogenannten „Theatralischen" völlig abstreifende Jnter-
pretation crwirkt wurde. Jm ersten Akt und zu Anfang
der wahrhaftigste „rcine Thor" war er von dem Moment
der Erkenntniß deS Wesens der Amfortaswunde ab der
seine Mission völlig erfaffende zur Entsündigüng des siechen
Königs beiuferie Erlöscr. Jn dem gewaltigcn Aufschrei
„Amfortas" nach dem Kusie der Kundry erwieS fich
GudehuS im Besttze großartigstcr dramatischer Gestaltungs-
kraft. Und dabei floß die Stimme silberklar und mächtig
zugleich, jeden Moment der Rolle beherrschend, dahin.
Man stand vor einer künftlerischen That.
Jn übcrraschender Weise zeigte sich auch das Organ
der Frau Materna, desien während der letzten Jahre
geschehene Ueberanstrengung über die weitere Qualifikation
der Sängerin für die Bayreuther Jnterpretation Zweifel
aufkommen lasien wollte, der gestellten Aufgabe gcwachsen.
Jm Spiel, wie bei ihr nicht anders erwartet, tiefstes Ver-
ständniß für die schwierige Rolle und großarttge Auffassung
derselben bekundend, crfüllte ste auch gesanglich jedeS Er-
forderniß und bestand die neue Prüfung auf der Welt-
bühne, wie man das Bayreuther Festspielhaus heutzutage
wohl bezeichnen darf, ausgezeichnet.
Durch Herrn Plank's mächtigen Bariton kam
Klingsors Zauberspruch großartig zur Geltung. Seit
Hill ist eine solche Darstellmig dieser Rolle, wie sie dnrch
den trefflichen KarlSruher Hofopernsänger gestern geschah,
nicht mehr zu Tage getreten.
Wie in den Vorjahren singt Theodor Reich-
mann (diesmal allerdings mit Eugen Gura altcrnirend)
den Amfortas. Das wundervolle Material des Künstlers
hat an Fölle noch zugenommen, absolute Reknheit der Jn-
tonation fehlt ihm indeß wie ftühcr. Es will mir scheinen,
als ob für diese dankbare Partie noch bessere Jnterpreten
gefunden werden könnten.
Auch Herr Siehr hat mit der sich vielen tiefen
Bäsien entgegenstellenden Schwierigkeit, stets den völlig
reinen Ansatz zu finden, zu kämpfen. Aber Herr Siehr
ist ein durch und durch vornehmer Sänger, ein echter
Künstler, welcher den Gurnemanz, abgcsehen von einzelnen
Beobachtungen bezeichneter Art, ganz vortrefflich gibt und
welcher der beste Ersatz für den in dieser Partie so außer-
ordentlich glücklich gewesenen Scaria bleibt.
Ganz reizend, in der Klangwirkung wohl noch glück-
licher wie ftüher, war der Chor der Blumcnmädchen. An
der Spitze dieser 30 an Bühnen von ganz Deutschland
auSgesuchten schönstimmigen Damen stchen scchs an der
Stätte ihrer sonstigen Wirksamkeit als erste jugendliche
Sängerinnen engagirte Künstlerinnen, darunter Fräulein
Fritsch und Frau Reuß - Belce vom Hoftheater in
Karlsruhe, Fräulein Sieber vom Hoftheater in Kassel
und Fräulein Kauer vom Hamburger Stadttheater. Da
läßt sich allerdingS eine köstliche Wirkung erzielen. Für
die Vorbereitung dieses weiblichen Chores gebührt Herrn
Mustkvirektor Porges besonderes Lob.
Die verschiedenartigen in den Gralsszenen auftretenden
Chöre der Ritter, Zünglinge und Knaben kamen ebenfalls
musterhaft zu Gehör. Und das Orchester — unvergleichlich.
Die prachtvolle Jnszenirung erregte auch diesmal
wieder Bewunderung, die Wandeldekorationen arbeiteten
trefflich. Jn der Kostümirung ist bei den Blumenmädchen
eine sehr günstige Aenderung eingetreten, im Ucbrigen ist
AlleS wie in den Jahren 1882—1884.
Die nächste Tristanaufführung geht mit Therese Mal-
ten (Jsolde) und Gudehus (Tristan) am Donnerstag vor
sich, Freitag folgt Parsifal mit Materna und Vogl, Sonn-
tag Tristan mit Rosa Sucher und GudehuS, Montag
Parsifal mit Malten und Vogl.
Für das nächste Festspieljahr, mag eS nun 1887 oder
1888 heißen, wird eine Musteraufführung der „Meister-
singer" geplant. Es ist nicht zu zweifeln, daß diese Jdee
gleichen Anklang finden würde, wie die der Einführung dcs
Tristan in's Bayreuther FestspielhauS.
_ L. L,. jr.
Das sünshundertjährige Iubiläum
der Univerfität Heidewerg.
i.
Heidelberg 26. Juli.
Er ist also wirklich gekommen der lang ersehnte, lang
besprochene Zeitpunkt I Fast erscheint eS unbegreiflicki, daß,
waS den Heidelbergern seit Jahrzehnten in vagem Schimmer
durch die undurchdringlichen Nebel Äer Zukunft entgegen-
leuchtete, nun mit einmal in fester Gestalt hervortreten, in
dem blendenden Glanz greifbarer Wirklichkeit stch ihnen
zeigen soll.