A- 21V
Zwme Auögave.
Dieiistag, den 3. August 1886.
Elberfelder
_Dercmtwortlicher «nd Chefredacteur vr. CajuS Möller in Elberfeldl_,
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«n der Expedition hier, in der hiefigen Agentur R. Hoeckner (Herzogsstraße 44) und in Barmen A. Graever
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bera'sche «nchdruckerei, P. Brtter. D. Schürmann, Ech«a«cnmarrt M. DuiSbura: F. H. Nieren. Elberseld:
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E. L»r>ch. Wien: Haas-nst-i» L Bogler. Wi:l«u: «. L. ltrüger. Z ürtch: Orcll Sühli «d Co.
Enthält u. a.:
Das fünfhundertjähnge Jubiläum der Universität
Heidelberg II. Der heutige Festakt. — Die Fortschritte
Äer russischen Armee seit den letzten fünf Jahrm. — Fürst
Bismarck und die Münchener Künstlergesellschaft „Allotria".
— Eine stadtrömische Parlamentswahl. — Die vatikanische
Vertretung in China.
Telegraphische Bepeschen.
Aepesche des Wokff'schen Nureaus.
* Heidelberg 3. August. Nach dem Festgottes-
Äienst in der Heiliggeistkirche fand der Festakt in der Aula
statt, bei welchem der Großherzog und der Kronprinz Reden
hielten. Der Großherzog alS keetor wagmlleevtissimus
gab zunächst seiner Freudc AuSdruck über die Anwesenheit
deS Kronprmzen alS Vertrcters dcS KaiserS, unter deffm
glorreicher Regierung und gnädiger Theilnahme dieseS
FricdenSfest begangrn werde. Weiter sprach der Großherzog
seine Gcnugthuung darüber auS, daß der Papst durch
Widmung einer kostbaren wissenschaftlichen Gabe sein
Jntereffe bekundet habe, dankteden Abgcsandien der deutschen
Schwesteranstalten, Hochschulm und Akademien befreundeter
Nationen, welche durch ihre Glückwünsche ein sehr schönes
Zeugniß von der Einheit der Wiffenschast gegeben. Der
Großherzog legte die glorreiche Vergangenheit der Hoch-
schule dar, gedachte der ruhmvollen Verdienste seincr Vor-
sahren um die Lniversität, hob die Verdienste der Universität
um die Forschung der Wiffenschast auf allen Gebieten
hervor, brachte der großen Korporation seinen bewegten
Glückwunsch dar, überreichte der Universttät als Zeichen
beS DankeS eine Medaille nebst Kette, welche der jeweilige
Prorektor tragen soll, und versicherte der Univerfltät, auch
in Zukunft ihr Schaffen unterstützen zu wollen.
Der Kronprinz entbot den Gruß und die Glückwünsche
des KaiserS und crinnertr an die ruhmreiche Geschichte und
die wechselvollen Schicksale der Hochschule im Kampfe um
daS GlaubenLrecht, um das ForschungSrecht. Um so
glänzender strahle ihr Ehrenschild jeht in der Sonne deS
«inigen VaterlandeS. Die Erinnerung an die große Stunde,
in welchcr der Großherzog als Erster dem Führer unsereS
sieghaften VolkeS mit dem Namen eines KaiserS gehuldigt'
sei bedeutsam für dic gegenwäriige Feier. Das Voran-
schreiten mit großem, gutem Entschluffe sei das Amecht deS
ZSHringer HauseS und dieser ruhmvollen Universität, welche
immer befliffen gewesen fei, die geistigen und stttlichen Be-
dingungm der Wiedergeburt deS deutschen VolksthumS zu
pflegen. Die Deutschen aller Gauen hätten sich hier alS
Söhne eines VaterlandeS wiedererkannt; der Sohn des
Nordens lerntr dm Sohn deS Südens als Bruder lieben,
«m heimgekehrt den Gtauben an die Volksgemeinschaft aus-
zubretten, der jetzt unser Hort und unsere Stärke sei.
Nach nunmehr gewonnener Einigung gelte es, die früheren
Tugendcn zu bewahrm; je höhere Gipsel in der Wiffen-
schaft und im gefchichtlichm Lebrn erstiegm seien, einer desto
größeren Besonnenheit und Selbstverlcugnung bedürfc es.
Lehrer und Lernende möchten in der Wiffenschaft wie im
Lebm festhalten an der Wahrhaftigkeit und Strenge der
gcistigen Zucht wie an der Förderung deS Bruderflnnes,
damit auS dem Geiste dcS FreimuthS und der Friedfertig-
keit die Kraft erwachse, um die LebenSforme» unsereS
VolksthumS gedeihlich auszubilden. Heidelberg als der
ältestm eine unter dm Universttäten möge an Thatkraft die
jüngste bleiben. _
Privatdepeschr der „Elderfelder Zeitung".
v Batzreuth 3. August. Der deutsche Kronprinz
wohnte der gestrigen Aufführung deS Parsifal von der
Fürstmloge aus bis zum Schluffe bei und sprach sich über
den tiefen Eindruck des WerkeS in dm wärmsten AuSdrücken
und sehr begeistert auS. Die Hauptrollm lagen gestern in
den Händen von Fräulein Malten, der Herren Vogl,
Reichmann, Plank und Siehr, die Besetzung war also eine
sehr gute. Soweit biS jetzt bestimmt, wird am Freitag
Frau Sucher zum ersten Male die Kundry singen. Fort-
während laufen Bestellungen auf Billets ein; für die beidm
letzten Abmde (19. und 20. Augnst) ist das Haus bis auf
wenige Plätze ausverkauft. — An der heutigm Leichmfeier
für Franz Liszt werden sich alle anwescnden Künstler be-
theiltgen.
(Nachdruck ohne Quellenangabe uutersagt.)
Die Iortlchritte der rusfischm
Armec scit drn lehtm Ms Iahrm.
LI'-X Daß di« russische Armee seit dem Jahre 1881,
d. h. seit der Thronbesteigung Kaiser AlexanderS III., große
und bedeutungsvolle Fortschriite gemacht hat, daß ste an
der Weitcrführung und Erhöhung derselben noch weiter
ununterbrochm thätig ist, dürfte auch dem größerm und
nicht militärischen Publikum bereits allgemein bekannt sein.
Gar ost ist schon von dcr Preffe wie von maßgebender
Stelle auL auf die wachsende Thätigkeit in der Friedens-
ausbildung der gewaltigen Nachbararmee, die gesteigerte
Kriegstüchtigkeit, vor allem auf die sowohl numerisch als
auch durch großartige Erwelterung deS LandeSbefestigungS-
systems wesmtlich erhöhte Kriegsmacht RußlandS hinge-
wiesen worden und dieses namentlich auS Anlaß der in den
letzten Jahrm jenseits unserer Ostgrenze vorgcnommmen
großen Veränderungen in der Truppendislozirung wiedcr-
holt beleuchtet worden.
Jm Großen und Ganzen stnd jcdoch außer der
Kenntniß der obigen allgemeinen Thatsache und etnigen
gelegmtlichm Ziffern, welchr vom Nichtmilitär bald ver-
gcffen zu werden pflegen, weitere, d. h. gcnauere Mitthei-
lungen darüber in daS große Publikum nicht gedrungen.
Dem letzteren ist es genügend, der richtigen Ueberzeugung
lebcn zu können, daß auch die kleinste Verändcrung in jeder
unserer Nachbararmcm unserem Gmeralstab und den maß-
gebmden Persönlichkeitm bekannt sein wird, während dm
MilitärS des FriedenS- wic des Kriegsstandes von Zeit
zu Zeit Artikel in den Fachblättern und neu erscheinenden
Broschüren genügmde AuSkunft über diesen und jenen, mehr
oder minder wichtigen Punkt in der Organisation,
Ausbildung und Beurtheilung unscrer Nachbartruppen
geben.
Eine auch für das nicht-militärische Publikum höchst
intereffante Zusammenstellung über die seit Kaiser
AlcxanderS III. Thronbesteigung in der russischen Armee
in's Lebm gerufcnm wesentlichsten Organisationsverän-
derungen behandeln mehrere Artikel, welche kürzlich in einem
heivorragenden englischen Fachjoumal*) rrschtenen stnd,
und die ihren Ursprung von einer mit den Verhältniffen
augenscheinlich sehr vertrauten Persönlichkeit deutlich ver-
rathen. Jn Folgendem soll ein AuSzug dieser Darstellungen
gegeben werdm, welche ebmsowohl die Bedeutung deS hohen
ReorganisatorS und seines Gehilfen in ein klares Licht
stellen, als auch cin intereffanteS und deutlicheS Bild von
der Bedeutung seiner Hauptneuerungen, wie z. B. der Neu-
uniformirung der Armee, dcr Neuorganisation der Kavallerie,
der Schaffung eineS Reserveosfizierkorps und der Reorga-
nisation und Hebung des gesammten Offizierkorps zu geben
außerordentlich geeignet stnd.
Es unterliegt keinem Zwei'cl, daß der anfangs so
unerwartet unglückliche Verlauf deS russisch-türkischcn Feld-
zugeS sür die russische Armee selbst von den wohlthätigsten
Folgcn begleitet gewesm ist, da dicse jeht als eine völlig
von der damaligen vcrschiedene und jener in Allem über-
legen dasteht. LetztereS ist jedoch durchauS nicht als ein
Verdienst des verstorbenen Zaren anzusehm, da dieser nach
dem Kriege in keincr Weisc daran ging, die durch den-
selbm aufgedeckten innerm Schäden und alle jene Nachtheile
zu beseitigen, welche schon an und für sich durch einen
langrn Feldzug jeder Armee zugefügt werden, vor Allem
die stark gelockerte Dtsziplin mit eiserner Hand wieder zu
sestigen. Das günstige Endresultat des KriegeS ließ bei dem
mehr durch die poiitischm Mißerfolge und das beständige
Anwachsen des Nihilismus als durch den Druck dcr Jahre
alternden und in seiner Eaergie beeinträchtigtcn Monarchcn
den Gedankcn an jrne zu Tage getretencn MSngel und
Schädcn in der Organisation seiner Armee allmählich
verschwindcn. Der KriegSminister Miljutin aber, welcher
ein viertel Jahrhundert seines LebenS darauf verwendet
hatte, die Organisation der altm Armee auszubauen, cr»
mangelte gleichfallS der nöthigen Frische zu dem großm
Gedanksn, das Hauptwerk seineS Lcbens wieder zu ver-
nichten.
Wie wenig der Thronfolgcr mit vielen Maßnahmcn
der Regierung zufrieden war, war allm denen nicht unbe-
kannt, welche mit thm in Berührung zu kommen Gelegen-
heit hatten, aber, da er sich von Jugend auf an eine
seltene Zurückhaltung gewöhnt hatte, wußte Niemand zu
sagen, auf welchem Gebiete namentlich stch seine Reform-
wünsche bewegten; an daS militärische konnte man hicr
wohl zuleht dcnken; denn obglcich der Großfürst alS
kommandirmder General eineS großen ArmeekorpS während
des KriegcS selbst eine nicht unbeträchtliche militärische
Befähigung dokumentirt hatte, so galt er doch allgemein
als kcin großer Militärenthustast und daS fast schüchterne
Auftreten, welches er später bald nach seiner Thronbe-
steigung bei seinem ersten Erscheinen vor seinm Garde-
regimentern an den Tag legte, schien erst recht die An-
nahme zu bestätigm, daß von ihm noch wmiger mergische
Maßregkln zu erwarten seirn alS von seinem Vorgänger.
Aber Alcxander III. überraschte die Welt, wie in
noch manchen anderen Beziehungm so auch in dieser, bald
durch eine mierwartete Festigkcit seineS WillenS und die
Energie seiner Maßregeln. Er übertrug daS KriegS-
ministerium dem General Wannowski, welchen er bereitS
in de r Stellung eines GeneralstabSchefs während dez
türkischen FeldzugeS kenncn gelernt und als cinen ver-
ständmßinnigm Mitarbeiter seiner Pläne erkannt hatte.
Bciden Persönlichkeiten hat daher die Armce in gleicher
Weise für die großm Fortschritte zu danken, wrlche sie
*) Anmerkung: Aämjrultx snä Lorss Ouarcks Esrstts
Nr. 76, 77, 78.
seitdem gemacht hat, und dem Zar gebührt daS außer-
ordentlich hoch anzurechnende Verdienst, daß er selbst ent-
gegen der Thätigkeit einer großen Hof- unv Militärpartei,
welche sogar durch cinzelne Mitglieder der kaiserlichm
Familie gestärkt war, seinem General eine absolut selb-
ständige VertraucnSstellung gegcbm und crhaltcn hat.
Niemand außer dem Monarchm selbst durfte irgend
welchen Einfluß auf ihn ausübm und alle wichtigen mili-
tärischen Organisationsfragm wurden zwischen ihnen beiden
allein festgcsctzt und dann erst alS kaits aooowplia bekannt
gegeben.
So allein wurde jeder Jntrigue, jeder vorzeitigen
Kritik die Existenzmöglichkeit abgeschnitten und der General
konnte, gestützt durch die Person des Monarchm selbst,
unbeirrt auf dem einmal als richtig erkannten und be-
tretenen Wege fortschreiten._
Bon der Balkanhalbinfel.
Nisch 2. August.
Die Skuptschtina genchmigte solgende Borlagen: ? die
dcutsch.serbische Kouvention betreffend den Muster- und Modell-
schutz, dic Deklaration betreffend den Markenschutz, die
internationale Konvention betreffend die Buswechselung amtlicher
Dokumente, sowie wiflenschaftlicher und literarischer Publikationen
und parlamentarischer Aunaleu, den Nachtrag zu der im Jahre
1883 in Paris abgeschloffenen Konvention zum Schutze industnellen
Eigenthums, die Konvention betreffend den Schutz des unter»
seeischen Kabels und betreffcnd den internationalen Telegrap en«
tarif, endlich die von dem Unterrichtsminister eingebrachte Bor»
lage über die Gründung eiuer Vorbereitungssch ile.
Die ostrumelioiische Zollfrage wird wahrscheinlich in
dcm Sinne dcr Zollfreiheit für die türkischen Waaren gelöst
werden. Des bulgarischen UnionSprinzipes halber aber wird
für die Pforte Ostrumelien als Gebiet deS Grenzverkehrs
behandelt.
Fürst Bisurarek in München.
§ München 2. August.
Bei dcm Besuche des Fürsten BiSmarck in hiesiger Stadt
trug derselbe die weiße Galauniform des magdeburgischen
Kürassierregiments Nr. 7; fllr seine Rundsahrt in der Stadt
war ihm eine Hofequipage zur Bersügung gestellt worden. Nach
dem Galadiner führl« der Prinzregenl die Fürstin
Bismarck bis an d«N Wagen. Bei dsm heute Bormittag
geuommenen Abschiede war auf dem Bahnhof u. A. auch Profcsior
Franz v. Lenbach gcgenwürtig; bekanntlich hat derselbe de»
Reichskanzler wiederholt portraitirt.
Eine originelle Ehruug bes Fürsten Bismarck veranstaltete
vorgestern Abmd die hiesige Küristlergescllschaft „Allotria".
Dleselbe lleß ihr größteS Trinkgefäß, einen uralte» zinnernen
ZNNftpokal mit Bter süllen und dem Reichskanzler in daS
preußische GesandtschastShotel tragen; den Krug zierte ei» Zettet
mit den nachstehenden Bersen:
„da unser Kavzler jüngst erklärt,
„daß auch sein Metier in denfelben Krels gehört
„als wie Frau Mustca, Malerei und Poeste,
„denn «unst, nicht Wissenschaft sei Diplomatie,
„so haben wir alle, die wir uns der Kunst befleißen,
„den großen Kollegen willkommen zu heißen."
Als Deputirts trugen die Maler Heinrich Braun und
Schmalzigaug den Krug in daS Gesandtschaftshotel. Den mehr
als 10 Liter enthalteuden Krug uicht alleine leereu zu können
bedauerte der Kanzler, doch trank er wiederholt auS demselben;
seine Gesellschaft hals daun bestenS. Spät in der Nacht wurde
der geleerte Krug in die „Allotria" zurückgetragen und dort aoch
ves öfteren von den versammelten Künstlern aus das Wohl des
Kanzlers gelcert. Der Krug oder technisch „die Pitsche" wird
sorta» den Namen des ersten deutschen ReichSkauzlerS
sühren. _
Dentsches Reich.
«mtliches.
Berltn, deu 2. August 1886.
Se. Majestüt der König habe» Allerguädigst geruht: dem
evangelischen Lehrer Klauer zu Bogel tm Kreise St. Goars»
Ias finshun-ettjährige Iubiläum
-er Univerfität Httdelberg.
II.
^ Heidelberg 31. Juli.
Der Berichterstatter als vuxtatio douovoloutiao.
Ein Sommernachtstraum.
„Wsgen der Rosen begießt man die Dornen," sagt
der Koran. Der Leser hat gewiß oft dic Wahrheit deS
Spruche« an sich erprobt, hat mit dem hochfeinen Diner
den unerträglichen Tischnachbarn, mit der hcrrlichen Alpen»
lust die Hotelrechnung oder mit der Patti den Ricolini in
Kauf genommen und kann der Reporter dasür, wen»
„zwischen Lipp' und Kelchesrand" dic Jubiläumsmächte
fchweben?
BiS an seinen Schreibtisch drängte flch nämlich der
große erregte Familienrath. Da wurde zunächst die Kranz-
frage behandelt. Hie Eichenkranz, hi« Tannenkranz I Dort
warme Worte sür den edleren Schmuck, hier weise Argu-
mente für die größere Dauerhaftigkeit. Dann folgt die
Rahrungsdebatte, denn, wie eine Festung vor der Belage«
rung, verproviantirt sich die Jubiläumsuniversität. Zwei
Rirsenschinken findcn als quantitativ und qualitativ genü-
gender Reservefonds allgemeinen Beifall. Schließlich kam
die WohnungSfrage an die Reihe. Wo soll man all den
Besuch nur bergen, mit dem man so überreichlich gesegnet
ist. — Leute, die un« seit Jahren vergeffen hatten, sterben
plöhlich vor Verlangen, uns während der Festtage an die
treue Brust zu drücken l — Endlich ist die Diskussion
geschloffen. Kaum hat sich der Famtlienrath verzogcn und
rch will endlich zur Feder greifen, da kommt Vetter Fritz
hereingeschwankt, bleich wie der Asra und crschreckiich abge-
magert.
„Um Gotteswillen, was ist Dir?" frage ich theil-
nehmend. „Hast Du Dich in Schweninger's Sanatorium
aufnehmen laffen?"
„Jch reite einen Geharnischien im Festzuge!" lautet
die lakouischc, wehmuthgetränkte Antwort. „Täglich sitze
ich Probe — nicht etwa zu Pferd, so weit sind wir noch
lange nicht, aber auf dcr Armlehne meineS Sorgenstuhles.
Da solltest Du mich thronen sehen in Panzcr, Hclm und
Bcinschienen! Den erstrn Tag habe ich eS volle fünf
Mmutcn ausgchalten, jetzt habe ich es schon aus eine halbe
-stunde gebracht. Es tebe das eiserne Ritterthum!"
Und mu vböro oousiuo?" erkundige ich mich sorgenvoll.
„Vergießt bittere Thränen über ihre meilenlangen,
«nförmigen Schnabelschuhe. Jeden Morgen fährt sie auf
denselben wie auf Schlittschuhen im Salon umher, „um
gehen z« lernen".
„Historische Treue!" ruft sie dabei mit bitterem Blick
auf daS entsehliche Schuhwerk, „alS ob bei einem Festzug
für eine Damc ein kleiner Fuß nicht hundertmal wichtiger
wärc alS alle historische Treuc l"
Endlich ist auch dieser Schmerzensschrei verhallt! Aber
nun ist mir der Kopf schwer gewordcn, der Denkapparat
versagt. Helfen wir mit einem Glas gutcn Rheinweins
nach! Dieser ist stark und die Luft gewitterschwül, wa«
deides dem Denken nicht förderlich. Jch lehne mich im
Stuhl zurück und meine Augen nehmen, wie immer, wenn
ich zu träumen beginne, ihre Richtung nach meinem Lieb-
lingSplah über dcm Schreibtisch, wo meine „Universitäts-
galerie" sich befindet, wo in Reih und Glied die Bilder
mciner Studien- und Nichtstudienfreunde hängen. Da
leben Bildcr vergangcner glücklicher Tage auf, die
ganz besonders bunt und fröhlich sind, wenn sie mit dem
treuen ehrlichen Gesicht dott in der Mitte zusammenhängen.
Ein Glas auf Dein Spezielles, mein unzertrennlicher,
erprobter Gefährte durch zehn Semester. DaS Schicksal
hat Dich in ferne Welten verschlagen und wir werden wohl
schwerlich wieder gemeinschaftlich einer Flasche den HalS
brechen. WaS für ein Prachtmensch Du warst mit Deinem
geraden Verstand und Deinem geraden Herzen; immer
fröhlich und immer mit einer lustigen Jdee bei der Hand.
Zu wie manchem Gelage hast Du mir „abgepfiffen",
denn Du warst ein Feiud alleS Lberflüssigen Treppenstei-
gens. Zu jedcr Tag- uud Nachtstunde ertönten auf der
Straße untcn die beiden erstcn Takte von „Alt Heidelberg"
als Signal, wobei die zwei letzten Notcn immer etwaS zu
ticf herauskamen; ich warf crlöst die Bücher bei Süte
und nun gings unfehlbar einer köstlichen Unterhaltung
entgegen.
Doch horch! Träume ich? „Alt Heidelberg" wird
vor dem Fenster gepfiffen. Ein Zufall! Doch nein, so,
ganz so Pfiff er, den zweiten Takt etwaS schneller und die
beiden letzten Noten zu tief. Zch reiße daS Fmster auf.
„Bist Du es?"
„Natürlich — wer sonst?"
Wie ich auf die Straße gclange, weiß ich nicht, ich
weiß nur, daß ich Sald, gan; wie ehedem mit ihm Arm in
Arm durch die Straßen schlrndere. Jeht stnd wir bei der
Univerfltät angelangt. Während daS ganze Gebäude in
Dunkelheit gehüllt ist, leuchtet daS Zifferblatt der Thurm-
uhr in seltsam phoSphorescirendem Scheine und ich kann
deutlich erkennen, daß die Zeiger auf fünf Minuten vor
zwölf Uhr stehen. Jn diesem Augenblick erglänzen sämmt-
liche Fenster in hellem Lichte und ich sehe, daß eine ge-
waltige, nach Tausendm zählende Menschenmenge durch daS
Portal drängt. „WaS ist daS?" frage ich erstaunt meinm
Freund, der mich mit seinem kräftigen Arm bereitS in den
Strom hineinbugstrt hat. „Komm nur," ruft er lächelnd,
indem er mich in die glänzend erleuchtete Vorhalle hinein-
zieht. Während wir fortgeschobm werden, habe ich reichlich
Muße, die wogende Mcnschenmenge in Augmschein zu
nehmen. Welch' farbeusatteS Bild, das stch wie tin ge-
waltiges akademischeS Kostümfest vor unseren Blickm cnt-
rollt. Da wimmeln alle Trachten der fünf letzten Jahr-
hunderte durcheinander, Kuttm und Talare, geschlihte
Wämse neben dem Flausrock, Federhüte und Barette,
bunte Kappen wie die Suppenteller und handgroße Cerevis-
mützm. Und welch feltsame Gespräche ringS um unS
schwirrm.
Da werden längst crledigte Thesen mit Eifer verhan-
delt, wtffenschaftliche Probleme erörtert, über deren Naivetät
ich lächeln muß, werden Namen mit der höchstenVerehrung
genannt, dic nie zu mcincn Ohren gedrungen. Wie mein
Blick über die Köpfe wcg nach ren Mauern schweift, ent-
decke ich, daß lehtere transparent sind und das Jnnere
der Auditocien überblickm laffen.
Auf dcm Katheder dort perorirt ein vertrockneteS alteS
Männchen. Die Hast, mit der cr zu Ende zu kommen sucht,
hat ihm Schweißperlen auf die Stirne gesät und ängstlich
starren die blöden Aeuglein nach einer riestaen altmodischm
Uhr, die er in der vergilbten Hand hält. Unter dm Zu-
hörern fällt mir gleich ein blonder jnnger Mann iu blauem
Frack mit goldcnen Knöpfen auf. Den Kopf ticf Lber den
breitm weißen Kragen und das zierlich geschlungene roth»
seidene Halsiuch herabgebeugt, schreibt er mit fliegeoder
Eile. Bei Gott, das ist ja mein Großvater, leibhaftig, wie
ihn das Pastellbild zu Hause zeigt! Jetzt erkennt er mich
und nickt mir zu und deutet dann hinüber nach etnem
anderen HSrsaal. Nicht möglich, da sitzt mein Urgroßvater!
Und waS thut er? Statt den Worten des salbungSvollen
Dozenten in der Perrücke zu lauschen, schnitzt er ein Herz
in das morsche Holz der Bank und seinrn und meiner
Urgroßmutter Namenszug darüber. Er sollte sich schämen,
der ehrwürdige alte Mann, solche Kindereien zu treiben!
Doch wir sind bei der Treppe angelangt und nun
entdeckc ich, daß sich der ganze Strom in die Aula ergießt,
die zu unendlichen Dimensionm sich erweitert zcigt. Kopf
an Kopf harrt hier die Mengc. Jm Hintergrund ist ein
Thron auS ehrwürdigen CodiceS erbaut, darüber flammt in
ungeheuren Buchstaben die Zahl 1886. Der Weg dmch die
Menge wird durch Spalier bildende Pedelle frei ge-
haltm. Welch' köstliche Grstaltm aus den guten alten
Zeiten sich unter ihnen finden!
Dm gewaltig Dicken dort kenn ich ganz gmau. Auf
jeder zehnten Seite in mcines Großvaters Pandektenhestist
er am Rand abkonterfeit.
Jetzt wird eS plötzlich stille im Saal, den eine maje-
stätische Frau bettttt, die sich in gemeffenem Gange, freund-
lich und doch crnst blickmd zu dem Bücherthron begibt.
Sie ist eine klassische grandiose Schönheit. Für ihr Mter
fehlt jeder Maßstab, sie ist jugendfrisch und doch fühlt man,
daß man eine Matrone vor stch hat.
„Frau Ruperto - Carola I" smfzt ein gebücktes alteS
Männchen neben mir und sich mit der zitternden pergament-
farbmen Hand eine Thräne aus dm Augen wischend, fügt
er hinzu: „stc war meine einzige Liebe!"
Nun hat sie auf ihrem Thron Platz genommm und
neigt grüßend das Haupt gegen die Versammlung. Jn
Weiten Falten umwogt sie ein ia vier Farben — die „vier
Fakultätm andeutmd", erklärt der alteHerr — gehalteneS
Gewand. Jch hatte gar nicht bemerkt, daß in dem Schatten
der grwaltigen Frau noch eine zweite Erscheinung vorüber-
gehuscht war, die jctzt plötzlich auf dem Katheder nahe dem
Thron auftauchte. Jm ersten Augmblick mußte ich hell
auslachen über die seltsame Figur. Auf einem zierlichen
Kinderkörper mit zarten Gliedmaßen sitzt ein Greisenkopf
mit runzligem Gestcht und glattem, durch eine etnzige
Silberlocke geziertem Schädel. Doch da« Seltsamste: an
dem gekrümmten Rücken prangen zwei mächttgc in allen
Regenbogenfarben spielende Schwingen. Wie ich gmauer
hinsehe, vermag ich die Zcichnung derselben zu unter-
scheiden; in schillernder Schrift stehm da biblische Sprüche,
juristische Axiome, mathcmatische Formeln, anatomische und
botanische Figuren.
Der Beschwingte verbeugt sich «nd mit glockenheller
Stimme beginnt er also zu reden:
„Werthe Versammlung! Jch, der Oenius loei grüße
Sie; grüßc Sie im eigenen Namen und im Namen unsercr
-Xlma Nater, der ich dir Gedanken von den Lippen a!>-
lese, um sie Jhncn zu verdolmetschen. Sie würde selbst
ihre Stimme erheben und ihren tiefm Gefühlen und weisen
Gedanken Ausdruck verlcihm, wenn ihr daS nicht al» alle-
gorischer Figur versagt wäre. So lißt sie denn durch mich
ihren mütterlichen Gruß entbieten, froh, die Kiuder, di« sie
während fünf Jahrhundertm an ihrer Brust genährt, voll-
zählig hier zu finden. Jn wenigcn Tagcn ist zum süns-
hundertstm Malc die Geburtsstunde unserer lieben Frau
angebrochen. Nur wenige Minutm, biS die Glocke äuf
dem Thurm die zwölfte Stunde verkündet, sind Jhnen
vergönnt, in den Körpern, in denen Sie hier einst ge-
wandelt, zu erscheinen, stch mit der hohen Frau deS Er-
eigniffes zu fteuen und derselben Jhrr Huldigung darzu^
Zwme Auögave.
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betragen die Petit-Zeile oder deren Raum 30 Pf. — Reclamen Lber dem RedactionSstrich xr. Zeile 1 Mark.
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Sleinnc Wtlliam W" - -
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: Wtllens. Zs erlohn: Rud.Wtchelhoven. Kikn: Haaienstetn ^Logler, Sc. Moste. G.L. Daube.Eo., Letpzigr
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R. Mos,«. Mnnster- Aug. stloles. Reub: I. van Haag. P » rt«: Havao, Laistle t «o., rk»o« st» Invour»« s. Sienilchetd:
H. Krnmm. St»!ierc»n>: Nijgh L van Drlmar. Sch w elm: S-br. Voawinkel. So lin-en: Otlo Atden, il. Di-ister.
E. L»r>ch. Wien: Haas-nst-i» L Bogler. Wi:l«u: «. L. ltrüger. Z ürtch: Orcll Sühli «d Co.
Enthält u. a.:
Das fünfhundertjähnge Jubiläum der Universität
Heidelberg II. Der heutige Festakt. — Die Fortschritte
Äer russischen Armee seit den letzten fünf Jahrm. — Fürst
Bismarck und die Münchener Künstlergesellschaft „Allotria".
— Eine stadtrömische Parlamentswahl. — Die vatikanische
Vertretung in China.
Telegraphische Bepeschen.
Aepesche des Wokff'schen Nureaus.
* Heidelberg 3. August. Nach dem Festgottes-
Äienst in der Heiliggeistkirche fand der Festakt in der Aula
statt, bei welchem der Großherzog und der Kronprinz Reden
hielten. Der Großherzog alS keetor wagmlleevtissimus
gab zunächst seiner Freudc AuSdruck über die Anwesenheit
deS Kronprmzen alS Vertrcters dcS KaiserS, unter deffm
glorreicher Regierung und gnädiger Theilnahme dieseS
FricdenSfest begangrn werde. Weiter sprach der Großherzog
seine Gcnugthuung darüber auS, daß der Papst durch
Widmung einer kostbaren wissenschaftlichen Gabe sein
Jntereffe bekundet habe, dankteden Abgcsandien der deutschen
Schwesteranstalten, Hochschulm und Akademien befreundeter
Nationen, welche durch ihre Glückwünsche ein sehr schönes
Zeugniß von der Einheit der Wiffenschast gegeben. Der
Großherzog legte die glorreiche Vergangenheit der Hoch-
schule dar, gedachte der ruhmvollen Verdienste seincr Vor-
sahren um die Lniversität, hob die Verdienste der Universität
um die Forschung der Wiffenschast auf allen Gebieten
hervor, brachte der großen Korporation seinen bewegten
Glückwunsch dar, überreichte der Universttät als Zeichen
beS DankeS eine Medaille nebst Kette, welche der jeweilige
Prorektor tragen soll, und versicherte der Univerfltät, auch
in Zukunft ihr Schaffen unterstützen zu wollen.
Der Kronprinz entbot den Gruß und die Glückwünsche
des KaiserS und crinnertr an die ruhmreiche Geschichte und
die wechselvollen Schicksale der Hochschule im Kampfe um
daS GlaubenLrecht, um das ForschungSrecht. Um so
glänzender strahle ihr Ehrenschild jeht in der Sonne deS
«inigen VaterlandeS. Die Erinnerung an die große Stunde,
in welchcr der Großherzog als Erster dem Führer unsereS
sieghaften VolkeS mit dem Namen eines KaiserS gehuldigt'
sei bedeutsam für dic gegenwäriige Feier. Das Voran-
schreiten mit großem, gutem Entschluffe sei das Amecht deS
ZSHringer HauseS und dieser ruhmvollen Universität, welche
immer befliffen gewesen fei, die geistigen und stttlichen Be-
dingungm der Wiedergeburt deS deutschen VolksthumS zu
pflegen. Die Deutschen aller Gauen hätten sich hier alS
Söhne eines VaterlandeS wiedererkannt; der Sohn des
Nordens lerntr dm Sohn deS Südens als Bruder lieben,
«m heimgekehrt den Gtauben an die Volksgemeinschaft aus-
zubretten, der jetzt unser Hort und unsere Stärke sei.
Nach nunmehr gewonnener Einigung gelte es, die früheren
Tugendcn zu bewahrm; je höhere Gipsel in der Wiffen-
schaft und im gefchichtlichm Lebrn erstiegm seien, einer desto
größeren Besonnenheit und Selbstverlcugnung bedürfc es.
Lehrer und Lernende möchten in der Wiffenschaft wie im
Lebm festhalten an der Wahrhaftigkeit und Strenge der
gcistigen Zucht wie an der Förderung deS Bruderflnnes,
damit auS dem Geiste dcS FreimuthS und der Friedfertig-
keit die Kraft erwachse, um die LebenSforme» unsereS
VolksthumS gedeihlich auszubilden. Heidelberg als der
ältestm eine unter dm Universttäten möge an Thatkraft die
jüngste bleiben. _
Privatdepeschr der „Elderfelder Zeitung".
v Batzreuth 3. August. Der deutsche Kronprinz
wohnte der gestrigen Aufführung deS Parsifal von der
Fürstmloge aus bis zum Schluffe bei und sprach sich über
den tiefen Eindruck des WerkeS in dm wärmsten AuSdrücken
und sehr begeistert auS. Die Hauptrollm lagen gestern in
den Händen von Fräulein Malten, der Herren Vogl,
Reichmann, Plank und Siehr, die Besetzung war also eine
sehr gute. Soweit biS jetzt bestimmt, wird am Freitag
Frau Sucher zum ersten Male die Kundry singen. Fort-
während laufen Bestellungen auf Billets ein; für die beidm
letzten Abmde (19. und 20. Augnst) ist das Haus bis auf
wenige Plätze ausverkauft. — An der heutigm Leichmfeier
für Franz Liszt werden sich alle anwescnden Künstler be-
theiltgen.
(Nachdruck ohne Quellenangabe uutersagt.)
Die Iortlchritte der rusfischm
Armec scit drn lehtm Ms Iahrm.
LI'-X Daß di« russische Armee seit dem Jahre 1881,
d. h. seit der Thronbesteigung Kaiser AlexanderS III., große
und bedeutungsvolle Fortschriite gemacht hat, daß ste an
der Weitcrführung und Erhöhung derselben noch weiter
ununterbrochm thätig ist, dürfte auch dem größerm und
nicht militärischen Publikum bereits allgemein bekannt sein.
Gar ost ist schon von dcr Preffe wie von maßgebender
Stelle auL auf die wachsende Thätigkeit in der Friedens-
ausbildung der gewaltigen Nachbararmee, die gesteigerte
Kriegstüchtigkeit, vor allem auf die sowohl numerisch als
auch durch großartige Erwelterung deS LandeSbefestigungS-
systems wesmtlich erhöhte Kriegsmacht RußlandS hinge-
wiesen worden und dieses namentlich auS Anlaß der in den
letzten Jahrm jenseits unserer Ostgrenze vorgcnommmen
großen Veränderungen in der Truppendislozirung wiedcr-
holt beleuchtet worden.
Jm Großen und Ganzen stnd jcdoch außer der
Kenntniß der obigen allgemeinen Thatsache und etnigen
gelegmtlichm Ziffern, welchr vom Nichtmilitär bald ver-
gcffen zu werden pflegen, weitere, d. h. gcnauere Mitthei-
lungen darüber in daS große Publikum nicht gedrungen.
Dem letzteren ist es genügend, der richtigen Ueberzeugung
lebcn zu können, daß auch die kleinste Verändcrung in jeder
unserer Nachbararmcm unserem Gmeralstab und den maß-
gebmden Persönlichkeitm bekannt sein wird, während dm
MilitärS des FriedenS- wic des Kriegsstandes von Zeit
zu Zeit Artikel in den Fachblättern und neu erscheinenden
Broschüren genügmde AuSkunft über diesen und jenen, mehr
oder minder wichtigen Punkt in der Organisation,
Ausbildung und Beurtheilung unscrer Nachbartruppen
geben.
Eine auch für das nicht-militärische Publikum höchst
intereffante Zusammenstellung über die seit Kaiser
AlcxanderS III. Thronbesteigung in der russischen Armee
in's Lebm gerufcnm wesentlichsten Organisationsverän-
derungen behandeln mehrere Artikel, welche kürzlich in einem
heivorragenden englischen Fachjoumal*) rrschtenen stnd,
und die ihren Ursprung von einer mit den Verhältniffen
augenscheinlich sehr vertrauten Persönlichkeit deutlich ver-
rathen. Jn Folgendem soll ein AuSzug dieser Darstellungen
gegeben werdm, welche ebmsowohl die Bedeutung deS hohen
ReorganisatorS und seines Gehilfen in ein klares Licht
stellen, als auch cin intereffanteS und deutlicheS Bild von
der Bedeutung seiner Hauptneuerungen, wie z. B. der Neu-
uniformirung der Armee, dcr Neuorganisation der Kavallerie,
der Schaffung eineS Reserveosfizierkorps und der Reorga-
nisation und Hebung des gesammten Offizierkorps zu geben
außerordentlich geeignet stnd.
Es unterliegt keinem Zwei'cl, daß der anfangs so
unerwartet unglückliche Verlauf deS russisch-türkischcn Feld-
zugeS sür die russische Armee selbst von den wohlthätigsten
Folgcn begleitet gewesm ist, da dicse jeht als eine völlig
von der damaligen vcrschiedene und jener in Allem über-
legen dasteht. LetztereS ist jedoch durchauS nicht als ein
Verdienst des verstorbenen Zaren anzusehm, da dieser nach
dem Kriege in keincr Weisc daran ging, die durch den-
selbm aufgedeckten innerm Schäden und alle jene Nachtheile
zu beseitigen, welche schon an und für sich durch einen
langrn Feldzug jeder Armee zugefügt werden, vor Allem
die stark gelockerte Dtsziplin mit eiserner Hand wieder zu
sestigen. Das günstige Endresultat des KriegeS ließ bei dem
mehr durch die poiitischm Mißerfolge und das beständige
Anwachsen des Nihilismus als durch den Druck dcr Jahre
alternden und in seiner Eaergie beeinträchtigtcn Monarchcn
den Gedankcn an jrne zu Tage getretencn MSngel und
Schädcn in der Organisation seiner Armee allmählich
verschwindcn. Der KriegSminister Miljutin aber, welcher
ein viertel Jahrhundert seines LebenS darauf verwendet
hatte, die Organisation der altm Armee auszubauen, cr»
mangelte gleichfallS der nöthigen Frische zu dem großm
Gedanksn, das Hauptwerk seineS Lcbens wieder zu ver-
nichten.
Wie wenig der Thronfolgcr mit vielen Maßnahmcn
der Regierung zufrieden war, war allm denen nicht unbe-
kannt, welche mit thm in Berührung zu kommen Gelegen-
heit hatten, aber, da er sich von Jugend auf an eine
seltene Zurückhaltung gewöhnt hatte, wußte Niemand zu
sagen, auf welchem Gebiete namentlich stch seine Reform-
wünsche bewegten; an daS militärische konnte man hicr
wohl zuleht dcnken; denn obglcich der Großfürst alS
kommandirmder General eineS großen ArmeekorpS während
des KriegcS selbst eine nicht unbeträchtliche militärische
Befähigung dokumentirt hatte, so galt er doch allgemein
als kcin großer Militärenthustast und daS fast schüchterne
Auftreten, welches er später bald nach seiner Thronbe-
steigung bei seinem ersten Erscheinen vor seinm Garde-
regimentern an den Tag legte, schien erst recht die An-
nahme zu bestätigm, daß von ihm noch wmiger mergische
Maßregkln zu erwarten seirn alS von seinem Vorgänger.
Aber Alcxander III. überraschte die Welt, wie in
noch manchen anderen Beziehungm so auch in dieser, bald
durch eine mierwartete Festigkcit seineS WillenS und die
Energie seiner Maßregeln. Er übertrug daS KriegS-
ministerium dem General Wannowski, welchen er bereitS
in de r Stellung eines GeneralstabSchefs während dez
türkischen FeldzugeS kenncn gelernt und als cinen ver-
ständmßinnigm Mitarbeiter seiner Pläne erkannt hatte.
Bciden Persönlichkeiten hat daher die Armce in gleicher
Weise für die großm Fortschritte zu danken, wrlche sie
*) Anmerkung: Aämjrultx snä Lorss Ouarcks Esrstts
Nr. 76, 77, 78.
seitdem gemacht hat, und dem Zar gebührt daS außer-
ordentlich hoch anzurechnende Verdienst, daß er selbst ent-
gegen der Thätigkeit einer großen Hof- unv Militärpartei,
welche sogar durch cinzelne Mitglieder der kaiserlichm
Familie gestärkt war, seinem General eine absolut selb-
ständige VertraucnSstellung gegcbm und crhaltcn hat.
Niemand außer dem Monarchm selbst durfte irgend
welchen Einfluß auf ihn ausübm und alle wichtigen mili-
tärischen Organisationsfragm wurden zwischen ihnen beiden
allein festgcsctzt und dann erst alS kaits aooowplia bekannt
gegeben.
So allein wurde jeder Jntrigue, jeder vorzeitigen
Kritik die Existenzmöglichkeit abgeschnitten und der General
konnte, gestützt durch die Person des Monarchm selbst,
unbeirrt auf dem einmal als richtig erkannten und be-
tretenen Wege fortschreiten._
Bon der Balkanhalbinfel.
Nisch 2. August.
Die Skuptschtina genchmigte solgende Borlagen: ? die
dcutsch.serbische Kouvention betreffend den Muster- und Modell-
schutz, dic Deklaration betreffend den Markenschutz, die
internationale Konvention betreffend die Buswechselung amtlicher
Dokumente, sowie wiflenschaftlicher und literarischer Publikationen
und parlamentarischer Aunaleu, den Nachtrag zu der im Jahre
1883 in Paris abgeschloffenen Konvention zum Schutze industnellen
Eigenthums, die Konvention betreffend den Schutz des unter»
seeischen Kabels und betreffcnd den internationalen Telegrap en«
tarif, endlich die von dem Unterrichtsminister eingebrachte Bor»
lage über die Gründung eiuer Vorbereitungssch ile.
Die ostrumelioiische Zollfrage wird wahrscheinlich in
dcm Sinne dcr Zollfreiheit für die türkischen Waaren gelöst
werden. Des bulgarischen UnionSprinzipes halber aber wird
für die Pforte Ostrumelien als Gebiet deS Grenzverkehrs
behandelt.
Fürst Bisurarek in München.
§ München 2. August.
Bei dcm Besuche des Fürsten BiSmarck in hiesiger Stadt
trug derselbe die weiße Galauniform des magdeburgischen
Kürassierregiments Nr. 7; fllr seine Rundsahrt in der Stadt
war ihm eine Hofequipage zur Bersügung gestellt worden. Nach
dem Galadiner führl« der Prinzregenl die Fürstin
Bismarck bis an d«N Wagen. Bei dsm heute Bormittag
geuommenen Abschiede war auf dem Bahnhof u. A. auch Profcsior
Franz v. Lenbach gcgenwürtig; bekanntlich hat derselbe de»
Reichskanzler wiederholt portraitirt.
Eine originelle Ehruug bes Fürsten Bismarck veranstaltete
vorgestern Abmd die hiesige Küristlergescllschaft „Allotria".
Dleselbe lleß ihr größteS Trinkgefäß, einen uralte» zinnernen
ZNNftpokal mit Bter süllen und dem Reichskanzler in daS
preußische GesandtschastShotel tragen; den Krug zierte ei» Zettet
mit den nachstehenden Bersen:
„da unser Kavzler jüngst erklärt,
„daß auch sein Metier in denfelben Krels gehört
„als wie Frau Mustca, Malerei und Poeste,
„denn «unst, nicht Wissenschaft sei Diplomatie,
„so haben wir alle, die wir uns der Kunst befleißen,
„den großen Kollegen willkommen zu heißen."
Als Deputirts trugen die Maler Heinrich Braun und
Schmalzigaug den Krug in daS Gesandtschaftshotel. Den mehr
als 10 Liter enthalteuden Krug uicht alleine leereu zu können
bedauerte der Kanzler, doch trank er wiederholt auS demselben;
seine Gesellschaft hals daun bestenS. Spät in der Nacht wurde
der geleerte Krug in die „Allotria" zurückgetragen und dort aoch
ves öfteren von den versammelten Künstlern aus das Wohl des
Kanzlers gelcert. Der Krug oder technisch „die Pitsche" wird
sorta» den Namen des ersten deutschen ReichSkauzlerS
sühren. _
Dentsches Reich.
«mtliches.
Berltn, deu 2. August 1886.
Se. Majestüt der König habe» Allerguädigst geruht: dem
evangelischen Lehrer Klauer zu Bogel tm Kreise St. Goars»
Ias finshun-ettjährige Iubiläum
-er Univerfität Httdelberg.
II.
^ Heidelberg 31. Juli.
Der Berichterstatter als vuxtatio douovoloutiao.
Ein Sommernachtstraum.
„Wsgen der Rosen begießt man die Dornen," sagt
der Koran. Der Leser hat gewiß oft dic Wahrheit deS
Spruche« an sich erprobt, hat mit dem hochfeinen Diner
den unerträglichen Tischnachbarn, mit der hcrrlichen Alpen»
lust die Hotelrechnung oder mit der Patti den Ricolini in
Kauf genommen und kann der Reporter dasür, wen»
„zwischen Lipp' und Kelchesrand" dic Jubiläumsmächte
fchweben?
BiS an seinen Schreibtisch drängte flch nämlich der
große erregte Familienrath. Da wurde zunächst die Kranz-
frage behandelt. Hie Eichenkranz, hi« Tannenkranz I Dort
warme Worte sür den edleren Schmuck, hier weise Argu-
mente für die größere Dauerhaftigkeit. Dann folgt die
Rahrungsdebatte, denn, wie eine Festung vor der Belage«
rung, verproviantirt sich die Jubiläumsuniversität. Zwei
Rirsenschinken findcn als quantitativ und qualitativ genü-
gender Reservefonds allgemeinen Beifall. Schließlich kam
die WohnungSfrage an die Reihe. Wo soll man all den
Besuch nur bergen, mit dem man so überreichlich gesegnet
ist. — Leute, die un« seit Jahren vergeffen hatten, sterben
plöhlich vor Verlangen, uns während der Festtage an die
treue Brust zu drücken l — Endlich ist die Diskussion
geschloffen. Kaum hat sich der Famtlienrath verzogcn und
rch will endlich zur Feder greifen, da kommt Vetter Fritz
hereingeschwankt, bleich wie der Asra und crschreckiich abge-
magert.
„Um Gotteswillen, was ist Dir?" frage ich theil-
nehmend. „Hast Du Dich in Schweninger's Sanatorium
aufnehmen laffen?"
„Jch reite einen Geharnischien im Festzuge!" lautet
die lakouischc, wehmuthgetränkte Antwort. „Täglich sitze
ich Probe — nicht etwa zu Pferd, so weit sind wir noch
lange nicht, aber auf dcr Armlehne meineS Sorgenstuhles.
Da solltest Du mich thronen sehen in Panzcr, Hclm und
Bcinschienen! Den erstrn Tag habe ich eS volle fünf
Mmutcn ausgchalten, jetzt habe ich es schon aus eine halbe
-stunde gebracht. Es tebe das eiserne Ritterthum!"
Und mu vböro oousiuo?" erkundige ich mich sorgenvoll.
„Vergießt bittere Thränen über ihre meilenlangen,
«nförmigen Schnabelschuhe. Jeden Morgen fährt sie auf
denselben wie auf Schlittschuhen im Salon umher, „um
gehen z« lernen".
„Historische Treue!" ruft sie dabei mit bitterem Blick
auf daS entsehliche Schuhwerk, „alS ob bei einem Festzug
für eine Damc ein kleiner Fuß nicht hundertmal wichtiger
wärc alS alle historische Treuc l"
Endlich ist auch dieser Schmerzensschrei verhallt! Aber
nun ist mir der Kopf schwer gewordcn, der Denkapparat
versagt. Helfen wir mit einem Glas gutcn Rheinweins
nach! Dieser ist stark und die Luft gewitterschwül, wa«
deides dem Denken nicht förderlich. Jch lehne mich im
Stuhl zurück und meine Augen nehmen, wie immer, wenn
ich zu träumen beginne, ihre Richtung nach meinem Lieb-
lingSplah über dcm Schreibtisch, wo meine „Universitäts-
galerie" sich befindet, wo in Reih und Glied die Bilder
mciner Studien- und Nichtstudienfreunde hängen. Da
leben Bildcr vergangcner glücklicher Tage auf, die
ganz besonders bunt und fröhlich sind, wenn sie mit dem
treuen ehrlichen Gesicht dott in der Mitte zusammenhängen.
Ein Glas auf Dein Spezielles, mein unzertrennlicher,
erprobter Gefährte durch zehn Semester. DaS Schicksal
hat Dich in ferne Welten verschlagen und wir werden wohl
schwerlich wieder gemeinschaftlich einer Flasche den HalS
brechen. WaS für ein Prachtmensch Du warst mit Deinem
geraden Verstand und Deinem geraden Herzen; immer
fröhlich und immer mit einer lustigen Jdee bei der Hand.
Zu wie manchem Gelage hast Du mir „abgepfiffen",
denn Du warst ein Feiud alleS Lberflüssigen Treppenstei-
gens. Zu jedcr Tag- uud Nachtstunde ertönten auf der
Straße untcn die beiden erstcn Takte von „Alt Heidelberg"
als Signal, wobei die zwei letzten Notcn immer etwaS zu
ticf herauskamen; ich warf crlöst die Bücher bei Süte
und nun gings unfehlbar einer köstlichen Unterhaltung
entgegen.
Doch horch! Träume ich? „Alt Heidelberg" wird
vor dem Fenster gepfiffen. Ein Zufall! Doch nein, so,
ganz so Pfiff er, den zweiten Takt etwaS schneller und die
beiden letzten Noten zu tief. Zch reiße daS Fmster auf.
„Bist Du es?"
„Natürlich — wer sonst?"
Wie ich auf die Straße gclange, weiß ich nicht, ich
weiß nur, daß ich Sald, gan; wie ehedem mit ihm Arm in
Arm durch die Straßen schlrndere. Jeht stnd wir bei der
Univerfltät angelangt. Während daS ganze Gebäude in
Dunkelheit gehüllt ist, leuchtet daS Zifferblatt der Thurm-
uhr in seltsam phoSphorescirendem Scheine und ich kann
deutlich erkennen, daß die Zeiger auf fünf Minuten vor
zwölf Uhr stehen. Jn diesem Augenblick erglänzen sämmt-
liche Fenster in hellem Lichte und ich sehe, daß eine ge-
waltige, nach Tausendm zählende Menschenmenge durch daS
Portal drängt. „WaS ist daS?" frage ich erstaunt meinm
Freund, der mich mit seinem kräftigen Arm bereitS in den
Strom hineinbugstrt hat. „Komm nur," ruft er lächelnd,
indem er mich in die glänzend erleuchtete Vorhalle hinein-
zieht. Während wir fortgeschobm werden, habe ich reichlich
Muße, die wogende Mcnschenmenge in Augmschein zu
nehmen. Welch' farbeusatteS Bild, das stch wie tin ge-
waltiges akademischeS Kostümfest vor unseren Blickm cnt-
rollt. Da wimmeln alle Trachten der fünf letzten Jahr-
hunderte durcheinander, Kuttm und Talare, geschlihte
Wämse neben dem Flausrock, Federhüte und Barette,
bunte Kappen wie die Suppenteller und handgroße Cerevis-
mützm. Und welch feltsame Gespräche ringS um unS
schwirrm.
Da werden längst crledigte Thesen mit Eifer verhan-
delt, wtffenschaftliche Probleme erörtert, über deren Naivetät
ich lächeln muß, werden Namen mit der höchstenVerehrung
genannt, dic nie zu mcincn Ohren gedrungen. Wie mein
Blick über die Köpfe wcg nach ren Mauern schweift, ent-
decke ich, daß lehtere transparent sind und das Jnnere
der Auditocien überblickm laffen.
Auf dcm Katheder dort perorirt ein vertrockneteS alteS
Männchen. Die Hast, mit der cr zu Ende zu kommen sucht,
hat ihm Schweißperlen auf die Stirne gesät und ängstlich
starren die blöden Aeuglein nach einer riestaen altmodischm
Uhr, die er in der vergilbten Hand hält. Unter dm Zu-
hörern fällt mir gleich ein blonder jnnger Mann iu blauem
Frack mit goldcnen Knöpfen auf. Den Kopf ticf Lber den
breitm weißen Kragen und das zierlich geschlungene roth»
seidene Halsiuch herabgebeugt, schreibt er mit fliegeoder
Eile. Bei Gott, das ist ja mein Großvater, leibhaftig, wie
ihn das Pastellbild zu Hause zeigt! Jetzt erkennt er mich
und nickt mir zu und deutet dann hinüber nach etnem
anderen HSrsaal. Nicht möglich, da sitzt mein Urgroßvater!
Und waS thut er? Statt den Worten des salbungSvollen
Dozenten in der Perrücke zu lauschen, schnitzt er ein Herz
in das morsche Holz der Bank und seinrn und meiner
Urgroßmutter Namenszug darüber. Er sollte sich schämen,
der ehrwürdige alte Mann, solche Kindereien zu treiben!
Doch wir sind bei der Treppe angelangt und nun
entdeckc ich, daß sich der ganze Strom in die Aula ergießt,
die zu unendlichen Dimensionm sich erweitert zcigt. Kopf
an Kopf harrt hier die Mengc. Jm Hintergrund ist ein
Thron auS ehrwürdigen CodiceS erbaut, darüber flammt in
ungeheuren Buchstaben die Zahl 1886. Der Weg dmch die
Menge wird durch Spalier bildende Pedelle frei ge-
haltm. Welch' köstliche Grstaltm aus den guten alten
Zeiten sich unter ihnen finden!
Dm gewaltig Dicken dort kenn ich ganz gmau. Auf
jeder zehnten Seite in mcines Großvaters Pandektenhestist
er am Rand abkonterfeit.
Jetzt wird eS plötzlich stille im Saal, den eine maje-
stätische Frau bettttt, die sich in gemeffenem Gange, freund-
lich und doch crnst blickmd zu dem Bücherthron begibt.
Sie ist eine klassische grandiose Schönheit. Für ihr Mter
fehlt jeder Maßstab, sie ist jugendfrisch und doch fühlt man,
daß man eine Matrone vor stch hat.
„Frau Ruperto - Carola I" smfzt ein gebücktes alteS
Männchen neben mir und sich mit der zitternden pergament-
farbmen Hand eine Thräne aus dm Augen wischend, fügt
er hinzu: „stc war meine einzige Liebe!"
Nun hat sie auf ihrem Thron Platz genommm und
neigt grüßend das Haupt gegen die Versammlung. Jn
Weiten Falten umwogt sie ein ia vier Farben — die „vier
Fakultätm andeutmd", erklärt der alteHerr — gehalteneS
Gewand. Jch hatte gar nicht bemerkt, daß in dem Schatten
der grwaltigen Frau noch eine zweite Erscheinung vorüber-
gehuscht war, die jctzt plötzlich auf dem Katheder nahe dem
Thron auftauchte. Jm ersten Augmblick mußte ich hell
auslachen über die seltsame Figur. Auf einem zierlichen
Kinderkörper mit zarten Gliedmaßen sitzt ein Greisenkopf
mit runzligem Gestcht und glattem, durch eine etnzige
Silberlocke geziertem Schädel. Doch da« Seltsamste: an
dem gekrümmten Rücken prangen zwei mächttgc in allen
Regenbogenfarben spielende Schwingen. Wie ich gmauer
hinsehe, vermag ich die Zcichnung derselben zu unter-
scheiden; in schillernder Schrift stehm da biblische Sprüche,
juristische Axiome, mathcmatische Formeln, anatomische und
botanische Figuren.
Der Beschwingte verbeugt sich «nd mit glockenheller
Stimme beginnt er also zu reden:
„Werthe Versammlung! Jch, der Oenius loei grüße
Sie; grüßc Sie im eigenen Namen und im Namen unsercr
-Xlma Nater, der ich dir Gedanken von den Lippen a!>-
lese, um sie Jhncn zu verdolmetschen. Sie würde selbst
ihre Stimme erheben und ihren tiefm Gefühlen und weisen
Gedanken Ausdruck verlcihm, wenn ihr daS nicht al» alle-
gorischer Figur versagt wäre. So lißt sie denn durch mich
ihren mütterlichen Gruß entbieten, froh, die Kiuder, di« sie
während fünf Jahrhundertm an ihrer Brust genährt, voll-
zählig hier zu finden. Jn wenigcn Tagcn ist zum süns-
hundertstm Malc die Geburtsstunde unserer lieben Frau
angebrochen. Nur wenige Minutm, biS die Glocke äuf
dem Thurm die zwölfte Stunde verkündet, sind Jhnen
vergönnt, in den Körpern, in denen Sie hier einst ge-
wandelt, zu erscheinen, stch mit der hohen Frau deS Er-
eigniffes zu fteuen und derselben Jhrr Huldigung darzu^