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Frankfurt vor der Revolution
Der Sprecher der alten Bürgerkapitäne, die als militärische
Vorsteher der vierzehn Stadtquartiere die Krönung 1792 noch
mitgemacht hatten und nun vom Kaiser Franz die Freiheit der
Stadt Frankfurt erbaten, ließ ihn als Deutschen Kaiser lebens.
Die Zeit zwischen jenen beiden Feiern des 18. Oktober hat die
grenzenlosen Hoffnungen enttäuscht, die bescheideneren Erwartungen
erfüllt. Die verbündeten Mächte hatten die Selbständigkeit der
Stadt beschlossen. Der Wiener Kongreß machte sie znm Sitze des
Bundestages, Frankfurt war als freie Stadt ein Mitglied des
Deutschen Bundes. Damit stand man auf einem ganz neuen
Boden, und als es sich um Festsetzung der jetzt anzunehmenden
Verfassung handelte, zeigten sich eine Menge von inneren
Gegensätzen, die nicht allein sür die Lösung der augenblicklichen
Aufgabe, sondern für das spätere Geschick Frankfurts von entschei-
dender Bedeutung geworden sind. Es erwies sich, daß die Rhein-
bundszeit doch nicht ohne Spuren zu hinterlasseu vergangen war.
Sie hatte das reichsstädtische Gemeinwesen zum Gliede eines zwar
recht gewaltsam zusammengeflickten, aber doch wenigstens im Prinzip
vom Geist des modernen Fürstentums ganz durchdrungenen Staats-
wesens gemacht. Und dieser Absolutismus vou Napoleons Gnaden
war zudem ein Sohn der französischen Revolution. Jetzt, da das
Großherzogtum verschwunden war, merkte man, wie notwendig
seine vielen Reformen im Grunde waren oder, wie Jügel es aus-
drückt, man fand, daß während die Verfassung großherzogliche
Uniform getragen hatte, ihr manches davon gut angestandeu habe.
Dies ist die eine Gedankenströmung. — Die entgegengesetzte war viel
weniger in scharfen Zügen ausgeprägt, mit gemütlichen Elementen
stark versetzt und deshalb im konservativen Bürgersinn des Frank-
furters viel fester und tiefer eingewurzelt: es ist die reichsstädtische
Tradition. Konnte die Reichsstadt ein modernes Staatswesen,
ein „Stadtstaat" werden? Das war die Frage. Und hier liegt der
Kern damaliger und späterer Berfasfungskonslikte. Die Verfassung
von 1816°) ist ein merkwürdiger Kompromiß der beiden wider-
streitenden Strömungen. Ihr Name schon bezeichnet den Charakter.
Sie heißt Konstitutionsergänzungsakte — und sanktioniert also die
>)Jügel a. a. O. S. 159.
2) Abgedruckt in der Gesetzes- und Statutensammlung der freien Stadt
Frankfurt I, 1—70, im Regierungskalender der freien Stadt Frankfurt 1816, in
den Konstitutionen europäischer Staaten, Leipzig und Altenburg 1817, II, 385 sf.
Frankfurt vor der Revolution
Der Sprecher der alten Bürgerkapitäne, die als militärische
Vorsteher der vierzehn Stadtquartiere die Krönung 1792 noch
mitgemacht hatten und nun vom Kaiser Franz die Freiheit der
Stadt Frankfurt erbaten, ließ ihn als Deutschen Kaiser lebens.
Die Zeit zwischen jenen beiden Feiern des 18. Oktober hat die
grenzenlosen Hoffnungen enttäuscht, die bescheideneren Erwartungen
erfüllt. Die verbündeten Mächte hatten die Selbständigkeit der
Stadt beschlossen. Der Wiener Kongreß machte sie znm Sitze des
Bundestages, Frankfurt war als freie Stadt ein Mitglied des
Deutschen Bundes. Damit stand man auf einem ganz neuen
Boden, und als es sich um Festsetzung der jetzt anzunehmenden
Verfassung handelte, zeigten sich eine Menge von inneren
Gegensätzen, die nicht allein sür die Lösung der augenblicklichen
Aufgabe, sondern für das spätere Geschick Frankfurts von entschei-
dender Bedeutung geworden sind. Es erwies sich, daß die Rhein-
bundszeit doch nicht ohne Spuren zu hinterlasseu vergangen war.
Sie hatte das reichsstädtische Gemeinwesen zum Gliede eines zwar
recht gewaltsam zusammengeflickten, aber doch wenigstens im Prinzip
vom Geist des modernen Fürstentums ganz durchdrungenen Staats-
wesens gemacht. Und dieser Absolutismus vou Napoleons Gnaden
war zudem ein Sohn der französischen Revolution. Jetzt, da das
Großherzogtum verschwunden war, merkte man, wie notwendig
seine vielen Reformen im Grunde waren oder, wie Jügel es aus-
drückt, man fand, daß während die Verfassung großherzogliche
Uniform getragen hatte, ihr manches davon gut angestandeu habe.
Dies ist die eine Gedankenströmung. — Die entgegengesetzte war viel
weniger in scharfen Zügen ausgeprägt, mit gemütlichen Elementen
stark versetzt und deshalb im konservativen Bürgersinn des Frank-
furters viel fester und tiefer eingewurzelt: es ist die reichsstädtische
Tradition. Konnte die Reichsstadt ein modernes Staatswesen,
ein „Stadtstaat" werden? Das war die Frage. Und hier liegt der
Kern damaliger und späterer Berfasfungskonslikte. Die Verfassung
von 1816°) ist ein merkwürdiger Kompromiß der beiden wider-
streitenden Strömungen. Ihr Name schon bezeichnet den Charakter.
Sie heißt Konstitutionsergänzungsakte — und sanktioniert also die
>)Jügel a. a. O. S. 159.
2) Abgedruckt in der Gesetzes- und Statutensammlung der freien Stadt
Frankfurt I, 1—70, im Regierungskalender der freien Stadt Frankfurt 1816, in
den Konstitutionen europäischer Staaten, Leipzig und Altenburg 1817, II, 385 sf.