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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 2.1913/​1914

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ie es ſich nur für eine große und
(% bedeutſame, inhaltsvolle und
unentbehrliche Zeitung ſchickt,
/ / wird ſie, die in nichts ihren
S reeichen hauptſtädtiſchen Schwe-
ſtern nachſtehen will, in aller Morgenfrühe,
durch die Türritzen in die ſtillen, ſchlaf-
dunklen Bürgerwohnungen geſchoben. Das
Dienſtmädchen, ſchon ſtädtiſch genug, um
ausgeprägten Sinn für öffentliche Intereſſen
zu haben, ſtürzt an die Tür, hebt die feuchten
Blätter auf und macht ſich über das Lokale her.
Auch die Unterhaltungsbeilage lenkt ihren
neugierigen Blick auf ſich, wennſchon die
ſchöne Beilage nicht das Intereſſe der Lokal-
notizen beanſpruchen darf. Wie kämen die
haltloſen Erfindungen ſchreibender Herren
und Damen auf gegen den Mordverſuch in
der Vorſtadt, den Diebſtahl beim Bürger-
meiſter und die Schlägerei eines Metzgers
mit einem Bäcker, die alle man bei Namen
und perſönlich kennt!

Dann kommt die Zeitung des Städtchens
ſittſam und ſauber auf den Frühſtückstiſch,
und der Hausherr entfaltet ſie, indes Mama
den Kaffee einſchenkt. Endlich gelangt der
Leitartikel zu ſeinem Recht. Aber des Hauſes
andere Mitglieder bemächtigen ſich der Bei-
lagen. Der Sohn lieſt, den Cäſar mit dem
ekligen Brückenbaukapitel vor ſich aufgebaut,
das Lokale, die Tochter, die erſt um zehn
Uhr private Literaturſtunde hat, den Roman,
und Mama die Anzeigen, wo Gelegenheits-
käufe, Verlobungen und Sterbefälle, ein
ſchamhaftes Heiratsgeſuch und die Theater-
anzeige das wirtſchaftliche und kulturelle Leben
des Ortchens illuſtrieren.

Sind dann die Herren aufgebrochen, ſo
halten die Damen, ehe ſie ihre Tagesarbeit
oder ihre Vormittagsvergnügungen beginnen,
noch eine kleine Leſeſtunde. Man ſetzt ſich
im Morgenrock ans Fenſter, grüßt hinüber,
wo die Frau Apotheker hinter der Roman-
fortſetzung fiebert, blickt auf die Straße, wo
das ſpärliche Frühleben paſſiert, und abſol-
viert die Zeitung. Es gibt da immer einige
erregende Momente. Wenn das eigene Städt-
chen die Senſation nicht bietet — nun, ſo
iſt doch außerhalb der Tore auch noch ein
Stücklein Welt, ſind die laſter⸗ und verbrechen-
reichen großen Städte; da ſtürzt ein Flieger
und bricht ſich das ſchlanke junge Genick; da
wird mit dem Aufgebot von dreißigtauſend
Menſchen, Herden wilder Tiere, berühmten
Mimen, mit Benutzung von Ozean, Alpen,
Schlöſſern, Bergwerken ein ſagenhafter Film
inſzeniert; da verheiratet ſich eine leidenſchaft-
liche Prinzeſſin unſtandesgemäß, und ein Herr-
ſcher hält erſchütternde Reden; ein Schiff

ſinkt auf traumhaft fernen Meeren, ein Pol
wird entdeckt, ein vergeſſener Mord geſühnt
und ein Perlenhalsband von märchenhaftem
Wert geſtohlen.

Doch alles dies, was da draußen vorgeht,
bleibt ſchattenhaft und unwahrſcheinlich, wirkt
wie Erfindung, Theater, Film. Wahrhaftes,
glaubwürdiges und mitfühlbares Leben hat
doch nur das eigene Städtchen, das ſich in
ſeiner Zeitung ſo rührend unverſtellt ſpiegelt.

Wer ſie lieſt, nimmt ſie auf Treu und
Glauben hin wie die Bücher der Geſchichte.
Man ahnt nicht, wie ſie zuſtandekommt. Die
Herren der Stadt, die am Stammtiſch den
Redakteur treffen, blicken vielleicht hier und
da in die Werkſtatt der Zeitung hinein, aber
dem anderen Publikum bleibt der Urſprung
ihres Blättchens Geheimnis. Sie iſt da wie
aus dem Nichts geſprungen, enthält die Er-
eigniſſe der Welt, die Wunder der Wiſſen-
ſchaft — denn war früher die Wiſſenſchaft
des Wunders Feind, iſt ſie heut der Wunder
Quelle —, die Siege der Technik, die Tele-
gramme aus fernen Kriegen, man weiß nicht
woher. Sie ſelbſt iſt etwas Wunderbares,
wird aber als Selbſtverſtändlichkeit hinge-
nommen und iſt dem Städtchen ſo notwendig
wie ſeine Waſſerleitung und die amtliche
Straßenreinigung.

Ihre Väter ſind verſammelt in einer kleinen,
kahlen und unliebenswürdigen Wohnung, der
überladene Schreibtiſche, rohe Regale, gar-
dinenloſe Fenſter, abblätternde Tapeten ein
zugleich unheimliches, einſchüchterndes und
myſteriöſes Ausſehen geben. Hat man in
die Redaktionen, in die Saalfluchten, in den
Betrieb einer großen Zeitung hineingeblickt,
ſo erſcheint einem das hier wie dilettantiſche
Spielerei, faſt wie kindliche Nachahmung.
Aber die Poſe — die Poſe iſt die gleiche!
Der Herr Herausgeber hat die Allüren eines
echten Zeitungskönigs, auch ſeine Haupttaten
ſind Zigarettenrauchen und Frühſtücken, auch
er hat einen olympiſch weichen Seſſel, den
Blick des Allgewaltigen und die Entſchieden-
heit der Befehle. Und er hat ſeinen Redakteur!

Ach, dieſe rührende Geſtalt! Manchmal
iſt es ein alter Mann. Er kommt aus den
großen Städten, wo er kleine Poſten inne-
hatte, er beherrſcht das Techniſche, aber hat
nicht die Routine des Geiſtes, die den ge-
borenen Journaliſten aus Nichts Dramen, aus
einem Auflauf einen Roman, aus einer zer-
brochenen Fenſterſcheibe eine Novelle dichten
läßt. Der geborene Journaliſt, der mit
leerem Kopf ſein Bureau betritt, ſtampft
Welten aus den Wüſteneien ſeines Hirns,
wenn eine freie Spalte ſeines Blattes da-
nach verlangt. Aber der Arme, der den
 
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