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Licht der untergehenden Herbstsonne aufgesaugt, sind wie von rosigem
Heiligenschein umstrahlt, wenn sich die Sonne früh keilförmig durch ein
Meer dichten Nebels schiebt. Sie ragen, von rosarot glänzendem Schnee
bedeckt, klar hinauf in den wolkenlosen Himmel, werfen ihre blauen
reinen Schatten in die weiße, schweigende Winterlandschaft hinaus,
oder heben sich in gespenstischen Umrissen vom nächtlichen Firmamente
ab, vom Mondlicht silbern übergossen.“ — Wahrlich, man kann es nicht
anders als frivol nennen, wollten wir solchen Propheten des reinen
Sehens uns nahen, ohne nach unseren Kräften selbst unser Auge geschult
zu haben. Denn wenn auch meiner persönlichen Überzeugung nach
hier noch nicht das Endziel aller Kunst liegt, so ist doch klar der einzige
Weg gezeigt, der dahin führen kann.
Und noch eins mag das angeführte Beispiel lehren: daß nämlich
die beste und sicherste Art, sehen zu lernen, die eigene Kunstbetäti-
gung ist, sei es auch nur in dilettantischer Weise und nur mit dem
Zeichenstift. Wer einmal nach der Natur gezeichnet hat, weiß, wie un-
erbittlich man dadurch zum richtigen und genauen Sehen genötigt wird,
wie man immer wieder an Stellen kommt, wo die Anschauung noch nicht
klar ist, und wo doch die Lösung gesucht werden muß, soll das Ganze
zusammenstimmen. Da gibt’s kein Wegsehen, Ausweichen, Darüber-
hingleiten: jeder Fehler im Sehen drückt sich unmittelbar auf dem Papier
aus. Und wer gezeichnet hat weiß auch, wie anders, wieviel fester und
besser sich das selbst Gezeichnete dem Gedächtnis einprägt, als wenn
man es nur gesehen hat oder fremde Nachbildungen davon besitzt. Und
was bezweckt das künstlerische Sehen denn anderes, als das Sammeln
von Erinnerungsbildern, von selbsterworbenem Vorstelhmgsreichtum?
-—- Ich will nicht unterlassen zu erwähnen, daß die Amateurphoto-
graphie, richtig betrieben, gleichfalls der Erziehung zum Sehen sehr
dienlich sein kann. Schon in der Auswahl des Motivs, in der Raum-
begrenzung durch den Rahmen kann hier viel künstlerischer Blick ge-
lernt und ausgebildet werden, und auf alle Fälle wird jede Beschäftigung
mit der Erscheinungswelt unserem Auge zugute kommen. Wir sehen
ja auch neuerdings außerordentlich reizvolle Produkte dieser Tätigkeit;
nur vergesse man nie, daß es eben doch keine Kunstwerke sind. —
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