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haben! Nun bevölkre ich Wälder, Wiesen und Höhen mit so schönen
Gestalten; ihn seh ich als Adonis dem Eber folgen, ihn als Narziß sich
in der Quelle bespiegeln!“
Solch hohe Auffassung vom Sehen und von der Kenntnis der Er-
scheinungswelt ist denn nun die beste Vorbereitung, um auch im
Kunstwerk recht und echt sehen zu lernen. Denn auch das will
erst ernsthaft gelernt sein, auch hier ist wahrhaft künstlerische Bildung
leider nur ein seltener Besitz. Es sei mir gestattet mit einem etwas
drastischen Beispiel zu beginnen, das gleichwohl von typischer Be-
deutung ist. Im Prellersaale unseres städtischen Museums stand ein
Dienstmädchen mit seinem militärischen Schatz vor der Leukothea,
die, auf den Wogen schwebend, dem Odysseus Rettung bringt. Und
nun hörte ein zufällig Vorübergehender die reizenden Worte: „Siehst
du, Karl, das ist der Herr Jesus, der auf dem Meere wandelt.“
— Gewiß hat es etwas unsagbar Lächerliches, wie das gute Kind hier
durch die Gedankenverbindung des auf dem Meere Wandelns für die
einleuchtendsten anatomischen Gegenbeweise blind geworden ist. Aber
fragen wir uns doch: wo liegt denn schließlich der prinzipielle Unter-
schied von solch göttlicher Naivität, wenn der „Gebildete“ in einem
Kunstwerk vor stofflichen und inhaltlichen Interessen den künstlerischen
Gehalt übersieht, wie wir es täglich in jedem Museum und in jeder Aus-
stellung beobachten können? Liegt hier nicht tatsächlich nur eine gra-
duelle, keine grundsätzliche Verschiedenheit in der mangelhaften Seh-
fähigkeit vor? — In ganz ähnlicher Weise habe ich es in den Uffizien
zu Florenz selbst erlebt, wie eine gebildete junge Dame eine sehr un-
zweifelhaft weibliche Venusbüste als Apollo ansprach; wo sind denn
in solchem Falle die Augen? —- Und hundertfach wird man es erleben,
daß jedes nackte Menschenpaar auf den ersten Blick „Adam und Eva“,
jede Mutter mit dem Kind im Arm „Madonna“ getauft wird, ohne daß
man sich die Mühe nimmt, überhaupt ernstlich hinzusehen, was der
Künstler denn eigentlich dargestellt hat. Über Ludwig von Hofmanns
köstliches Bild „Am Scheidewege“ habe ich sogar einmal ein entrüstetes,
vernichtendes Urteil gehört, das sich darauf gründete: „so’n Bürschchen
wäre doch kein Adam“! Es sollte freilich auch keiner sein, sondern der

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