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Waldmann, Emil; Leibl, Wilhelm [Ill.]
Wilhelm Leibl — Bibliothek der Kunstgeschichte, Band 5: Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.73677#0009
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bilder sind Genrebilder. Aber seine Kunst steht turm-
hoch über der der eigentlichen Genremaler. Er wollte
nicht, wie sie, in seinen Bildern Geschichten ausspinnen,
bei denen sich dann der Beschauer noch dieses und je-
nes hinzudichten sollte, sondern er wollte Charaktere
schaffen, die Menschen, die er vor sich hatte, so schil-
dern, wie er sie sah und wie er sie kannte, in ihrer
ganzen Menschlichkeit, schön oder häßlich, aber immer
wahr, innerlich und äußerlich wahr. „Wenn ich nur die
Menschen so male wie sie wirklich sind, dann ist die
Seele ohnehin dabei", hat er einmal gesagt, als man
ihm vorwarf, daß seine Geschöpfe docli wenig psycho-
logisch seien. Wenn die künstlerische Durchdringung von
Form und Erscheinung restlos geglückt war, dann war
auch die Innerlichkeit wie von selber erreicht.
Es ist eigentlich merkwürdig, daß dieser Mensch, der
30 Jahre seines Lebens immer auf dem Lande gelebt
hat und der Natur so nahe war wie kaum ein anderer
seiner Zeit, kein einziges Landschaftsbild gemalt hat.
Gegenstand der Kunst war ihm ausschließlich der Mensch.
Der interessierte ihn, an dem hatte er immer wieder
zu sehen und zu studieren, genug für zwei Leben. Die
Natur, die Landschaft war seine Freude, — der Mensch
war seine Arbeit. Als er das Kirchenbild malte, die drei
Frauen imBetstuhl, legte er in diese Gestalten alles hinein,
was er vor Menschen, diesen drei Lebensaltern, je emp-
funden und erfahren hatte. Wie die drei da beten, ist
nicht das Beten irgendwelcher beliebiger Menschen, son-
dern es hat ewig gültige Bedeutung. Dieses Gottvertrauen
der mittleren mit dem aufrechten Kopf, dieses etwas
mümmelnde, ein wenig zum Lippenwerlc gewordene Flü-
stern der gebrechlichen Greisin und endlich diese etwas
zerstreute Frömmigkeit des jungen Mädchens in den schö-
nen Kleidern — diese Gegensätze, diese verschiedenen
Abstufungen ein und desselben Gefühls, ausgedrückt
durch eine eindringliche aber an keiner Stelle aufdring-

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