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maßlos überraschtes Gesicht zeigte, als Morr, selbst nicht sonderlich begeistert und
ein wenig stockend, mit seinem beziehungsweise Lindqvists Vorschlag herauskam.
„So?" machte der Doktor, als Marr sertig war, „also diese Dome muh un-
bedingt noch Taiyüansu? Darum reist sie dann nicht mit dem Postmeister?"
„Sie wissen doch, daß der Postmeister unbedingt bleiben will."
„And warum nicht mit Missis tzullerlon?"
„Auch zwei Zrauen, Doktor, können in solchen Zeiten unmöglich ohne männ-
lichen Schuh reisen. Selbst wenn Missis Zullerton nach Taiyüansu wollte — aber
ich glaube, Zullerton möchte das nicht, es sähe schlecht aus bei den getauften
Chinesen, wenn die geistlichen Hirten sich in Sicherheit brächten, ohne an die Herd«
zu denken —, selbst wenn sie's wollte, würde auch sie sich uns anschliehen. And
es wäre das einzig Natürliche."
„Muh ich Ihnen sagen, wirklich ausdrücklich sagen, dah ich's zwar im all-
gemeinen ganz natürlich sände, in diesem einen besonderen Zoll aber höchst un-
natürlich, taktlos, ja unmoralisch — ?"
Marr wars den Kops zurück, dah die farblos blonde Strähne, die ihm beständig
in die Stirn siel, sür «inen Augenblick zurückrutschte. „Sie sind etwas sehr deutlich,
Doktor!" murrt« er. „And ohne Grund."
„Ich habe Grund genug!"
„Nicht dah ich wüßte."
„S doch. Daß mein Mädel tagelang verheult herumläust, ist mir Grund genug."
„Segen Lisersucht ist kein kraut gewachsen." Marr zuckte die Achseln. „And
gegen Mißtrauen gibt es keine Widerlegungen. Ader Sie, Doktor, könnten etwas
objektiver sehen."
„Ich sehe, was ich sehe, ganz objektiv, verlassen Sie sich daraus. Und darum
sag' ich Ihnen, daß weder mein« Tochter noch ich verlangen nach einer Reise in
der Gesellschaft von Zrau Lindqoist hegen. Sie freilich, scheint es, um so mehr!"
Marr war um die Nasenslüge! «in wenig blaß. „Jetzt", murmelte er, „sind Sie
zu weit gegangen, Herr Doktor Hersvrth."
„Sv, meinen Sie? Ich bin gewöhnt, die Katze eine Katze zu nennen, das ist
alles. Sie werden mir möglicherweise Ihr Wort onbieten, daß zwischen Ihnen
und der Dame nichts vorgesallen ist — bisher. Ihr Wort sür dis Zukunft können
Sie mir schon nicht geben. Und sür die Absichten von Zrau Lindqvist einstshen —
das geht entschieden über Ihr« Kompetenzen."
„Ich bin kein grüner Junge mehr, Doktor, dem eine Zrau bloß mit dem Zinger
zu winken braucht, und sofort liegt er ihr zu Zühen."
„Man kann mit mehr winken, und dann sollen manchmal auch reifer« Jahr-
gänge", antwortete Hersvrth böse.
Marr schluckte. „Und selbst wenn's so wäre, wie Sie annehmen", sagte er
endlich verbockt, „auch die Rettung von Larolos Seelensrieden gibt Ihnen nicht
das Recht, dis Rettung eines Lebens abzulehnen."
„vom Postmeister lieh« ich mich in dieser Art belehren. Wenn aber Sie es
tun, — muh ich das nicht verdächtig finden?"
„Der Postmeister ist über Land geritten, und Sott weih, wann er, ja, ob er
wiederkvmmt."
„So?" Hersvrth war zum erstenmal, beeindruckt. „Nun, ich will Ihnen etwas
sagen. Wenn Zrau Lindqoist selbst darauf besteht, mit uns zu reisen, obgleich sie
weih, wie unwillkommen sie zumindest Carola und mir ist, mag sie's tun. Wir
wollen nicht schuld an ihrem Tode sein. Aber willkommen — willkommen ist sie
nicht. And spüren würde sie das. Das ist alles, was ich Ihnen antworten kann.
Richten Sie's aus. Vielleicht hat Zrau Lindqvist Verständnis sur di« Lage, in die sie
käme, und zieht es doch vor, eine andere Reisemöglichkeit ausfindig zu machen."
*
Marr hängt« mit einer Bewegung, deren er selbst nicht gewahr wurde, die
Kamera um, mit der er während des Gesprächs gespielt hatte, und verlieh den
Missionsgarten. Cr hotte kein bestimmtes Fiel, wünscht« nur, allein zu sein und
die beiden Anterredungen, die ihm der noch junge Tag gebracht hotte, zu ver-
arbeiten. Cr stromerte dahin, und nach einiger Feit fand er sich im Hos jenes
Tempels, in dem Hanna Lindqvist ihn einmal erwartet hatte. Cr blickte sich um.
Diesmal erwartete ihn niemand, der Hof war leer.
Cr mochte eine ganze Weile aus den Gtusen des Tempels gehockt haben, als
ein Geräusch ihn aus seinen Gedanken rih. Der alte Bonze, den Hanna ihm
damals vorgestellt hatte, kam mit schlürfenden Schritten über den Hof. Cr grüßte
Morr kurz, anscheinend nicht zu einem Gespräch gestimmt. And als Marr ihn
anredste, siel seine Antwort ziemlich knapp aus. Narr fragte ihn, ob er ihm wohl
das Tempelinnere zeigen wolle, wie er es ihm versprochen hotte. Der Bonze
schüttelte den Kops und murmelte etwas von den Vorbereitungen zu einem Zest.
Marr wußte, es wäre unziemlich gewesen, noch weiter in den alten Herrn zu
dringen. „Cin andermal wird es vielleicht besser passen", meinte er und stand aus,
„und photographieren könnte ich heute wohl sowieso nicht. Cs ist zu dunkel."
Der Bonze nickte. „Ls wird Sturm geben", murmelt« er mit zahnlosem Mund.
„Nun", Marc verneigte sich, „aus bald also."
Als er weiterwanderte, geriet er an die Gaste der Goldschmiede, die in Lin
Hsien, wie das Handwerk allerorten in Innerchina, gildenmähig zusammenhousten.
Verdlüsst blieb er stehen. Die Gaste war zu. Lin Tor von schweren Holzbvhlen,
stark mit Eisen beschlagen, sperrte den Weg. Marr hatte wohl solch« sperrdaren
Gasten schon gesehen, kaum je aber, dah sie am hellichten Tag geschlossen worden
wären. Sr wandte sich mit kurzer Zrage an einen Kuli, der des Weges trottete,
und erhielt eine grobe Antwort. Es juckte ihn, dem Monn eins hinter die Shren
zu geben, doch di« Haltung des Chinesen warnte ihn. Cr hatte etwas Aufsässiges
an sich, das schlecht zu der üblichen Unterwürfigkeit solcher Leute paßte. Marr
süklte sich beunruhigt. Wieder, wie im Tempelhvs, spürte er irgend etwas heran-
ziehen, das er nicht kannte und doch dunkel fürchtete.
vor einer Garküche machte er holt. Lin paar Männer redeten halblaut und
eifrig. Lr spürte Hunger und riss noch dem Wirt und im gleichen Augenblick
bedauert« er, es getan zu Hoden. Denn sobald die Chinesen begriffen hatten, der
fremde Weih« beherrsch« ihr« Sprache, wurden sie wie aus Kommando still. Marr
versuchte sich zu erinnern, was das letzte gewesen sei, dos er unklar verstanden
halte. War es nicht irgend etwas mit Gewehren gewesen? Hatte er nicht den
Namen des Bankiers gehört, dieses Tsin kui W?
Lr kam an dem Manien vorüber, in dem jetzt Tsin Liong hauste, der unbedeu-
tende und einflußlose Bruder des Bankiers, kein Mensch lieh sich sehen, während
um diese Stunde gewöhnlich das Tor jedes ftamen von Rechtsuchenden und
Streitenden belagert war. Lin Hsien boykottierte Tsin Liong. wie es schien. Mochte
er von den Japanern noch so eindringlich in sein Amt als Stodtpräsekt eingesührt
worden sein — mit ihrem Abzug hatte er jede Autorität verloren. Marr nickte
leis«. Genau so hatte er sich die Entwicklung dieser Sache vorgestellt.
Marr ging zum Hause Tsin Kuis. Der Türhüter des Hauses, kein schmaler
kleiner Chinese, sondern ein grobschlächtiger langgliedriger Mandschumann mit
dem knochigen Gesicht eines Steppenpferdes, wehrte einer beträchtlichen Menge
den Eintritt. „Herr Tsin empfängt nicht", sagte er monoton in die Menge, als
Hab« er den Sah an diesem Tag schon hundertmal ausgesprochen, ..Herr Tsin
wird zu sich bitten losten, wen er zu sehen wünscht."
Lin Bankier, der seine Kunden zu sich bittet, sobald er sie zu sehen wünscht?
dachte Marr befremdet. Lr besah sich die Leut« näher, die das Tor belagert
hielten. Das waren keine Städter, sondern überwiegend Kleinbauern: es mochten
Pächter der Ländereien sein, die Tsin kui in weitem Amkreis um di« Stadt besah
— obgemagerte, unterernährte Männer mit tiefliegenden glänzenden Augen. Sie


Kornett erlernte schon in sungen fahren das Kciegs-
^ H Handwerk bei einem Reiterfähnlein: bei Len eisen--
bekleideten Kgrissern, den sturmerprobten Pikenieren
oder den wildvecwegenen hussarischen Reutern, l^ier übte er
sich im Gebrauch des Stoßdegens, des Faustrohrs und der
langen Arkebuse. Don einer Stafette oder einem gelungenen
Kundschafterritt heimgekehrt, ließ auch er sich einen guten
Dropsen munden. Loch selbst in der Freude über den Erfolg
vergaß er nicht die Dugenden, die Kaiser Maximilian, §der
letzte Ritters seinem Landsknechtsvolk in den hochberühmten
z/Artikelbriefen^ zur Pflicht gemacht.
Selbstzucht - um nur eine dieser alten Soldatentugenden zu
nennen - beweist und bewährt sich auch außerhalb des Dienstes,
bei den geselligen Zusammenkünften, im Kreise froher Kamerad--
schaft. Len Mäßigen belohnt der volle runde Meindust sowie
der milde ,/weinige^ Geschmack von
der einen unvergleichlichen Genuß gewährt.
 
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