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Schorllng

Das polnische Oefühl

Glossm von paul Barchan

Vielgeprüft, wie kaum eins der Völker, gekränkt, gedemütigl, kn seinem
Heiligsten verletzt, mit Narben bedeckt, aus innern Wunden blutend,
so ist dieses polen zum Lteblmg der Nationen geworden. Ein Schmer-
zensktnd, aber ekn Liebling. So empfindet es die Welt, so fühlt es sich
selber. Von dem alten schmollenden, in sich verbissenen Aristokraten, von
dem frischen, neue Taten träumenden sZüngling, bis zu dem innerlich durch-
gearbeiteten, wenngleich nicht bewußten Bauern. Sie alle verbindet das-
selbe polnische, etwas Brennendes, schmerzlich Stolzes. Dieses Durch-
drungensein des Gekränkten von der Schuld, die eine Welt ihm gegenüber
etnzulösen hat. Dazu: ein in Fleisch und Blut und Nerven übergegange-
nes Bewußtsein um die gloriose Bergangenheit, die reiche, wenngleich so
unerfreuliche Geschtchte, die wahrhaft alte Kultur. Diese Kultur, die so
unberührt geblieben von der raschen Emporgekommenheit, der Erpichtheit
und dem Dünkel der Kultursurrogüte der Modernheit — all dtes hat die
Polen zu einer adltgenNatkon durchgearbeitet. Dies Volk hat das Selbst-
gefühl einer kleinen großen Natton.

*

Der ideale Ausdruck des polentums ist Warschau. Ein klein paris.
Mit keiner andern Stadt der Welt vergleichbar. Ein kleiner Ausschnttt:
eine Straßenecke, ekne rollende Droschke, der hockende Kutscher, ein rrip-
pelndes Mädel sich wiegend, das Flimmern der Luft — immer wieder:
paris. Kletner, ärmlkcher, ohne Genialität genialisch, aber paris. llber
Mitteleuropas Köpfe hinweg wersen sie einander Raketen hinüber, her-
über. Lufi, Licht und Bewegung schießt über die härtere Atmosphäre
Mitteleuropas, sich verschwisternd zu eknander. Das gleiche Auffchäumen,
Elan, Liebe sür Glanz, pathos — beider Rhythmus ist verwandt. Die

Melodik der Sprache und deren leidenschaftliche Hftegc, beiden Nattonen
ist sie gemeinsam. Und beiden Nationen gemeinsam ist der Kult der Frau.

*

Fremde Nationen, die dem polnischen Charakter verständnislos gegen-
überstehen, fahren immer wteder in sich zurück: diese polen — ja, aber kein
Verlaß, salsch, hinterlistig, und die Brücken, die ihre politik baut, unbe-
schreitbar. Wie wenn ein Marsbewohner von uns sagte: nennt einen:
geehrter Herr, versichert, daß er voller Hochachtung zu einem wäre, oben-
drein noch dokumentarisch, htnterher sagt er, er könne ihm den Buckel lang
ruffchen und dergleichen. Die Holen sind ein femknines Volk, zweisels-
ohne das femininste unter den Ariern. Sie sind wie die Kinder. Viel-
leicht wie dte kleinen Mädchen. Trohig und verschlagen und grausam.
Und ebenso, eben wie dte kleinen Mädchen, leichtgläubig, überschäumend
und anschmiegungsbedürfiig. Zur rechten Zeit das richtige Wort — und
sie glauben blindlings jedem Märlein, folgen vertrauensseltg und ihr
wickelt sie um dte Finger. Selbige Finger dürfen aber nicht grob und
plump sein. Und habt ihr euch in Wort und Zeit vergriffen, so bletben sie
bockkg, unnahbar, und kcine Macht der Welt öffnet euch die Türe zu ihrem
Herzen, das so ewig jung, und also taunisch ist und kekne Güte übt. Und
dieses junge Herz tst so empfänglkch, empfindlich und vergißt nichts!

Den Kellner rufi man nicht, man klopft auch nicht nach thm, sondern
man wartet, bis er kommt und nach dcn Wünschen fragt. Und man spricht
ihn mit „Herr", jöan an. Wenn dte die Gewalt Habenden die Sitte
mißachten, 'so sügt er sich. Doch die Kränkung wird er nie vergessen. Denn
er ist kein Sklave, kein plebejer. 2n der „Milchanstalt", wo ihr den reich-
gerahmten Kaffee trinkt, steht hinter dem Tisch eine dralle, pralle Blon-
dine, Mtlch und Blut, zum Hlahen. Hellilablaue Augen, weit und glän-
zend, und das Haar von seidiger, von jener einzig polnischen Blondhett.
Etn Prachtexempel für Zuchtwahl. 2hr denkt: eine Kuhmagd. Aber seht
ihr nur zu, sie ist, wle jeder, jeder in dkesem Lande — Aristokratin. 2nner-
lich verwöhnt, das Leben liebend, das Leben achtend, das Leben hegend.
Etn Auskosten in den abgestimmten Nerven, der Gaumen gewissermaßen
von musikalischem Empfinden. Und seht den jungen Bauernmädchen auf
dem Lande zu, seht ihnen stundenlang zu, laßt es euch nicht verdrteßen.
Seht, welche Katzenhaftigkeit, welche Anmut, welche präzision. Ver-
wunschene prinzessinnen. Die Erinnerung an verschwundene historische
pracht im Blute, Sehnsucht nach Glorie in den Bewegungen. Stolz,
Nerven, Rasse. Von der einzig polnischen Grazie. Ia, die Grazien haben
dies Volk geküßt. Die Götter haben es gesegnet. Aber Gott schlägt und
verfolgt es in seinem Zorn.

*

Man könnte den Holen eine Frage vorlegen: wie kommt es, daß wir
die besten Namen eurer Künstler im Ausland antreffen. Hroduzkerende
und ausübende Künstler haben ihrer Heimat den Rücken gekehrt, sind
Weltbürger geworden und wissen bisweilen um ihr Vaterland nicht mehr.
Schon der Romantiker Aleksander Orlowskt hat Warschau sür immer
verlassen, ist ein kurioser Hetersburger Kauz, Spaßmacher und Schnell-
zeichner geworden. Kossak und Falat mußten ihren Appetit mit aus-
ländischen Lorbeeren stillen. Der russifizierte Wrubel gehörte zu den Füh-
rern der Hetersburger Moderne. Der Wilnaer pole, der köstliche Dobu-
zinski hat flch gänzlich der russischen Kunst verschrieben, gehört zu deren
feinsten, kultiviertesten HLnden. Viele von den ganz jungen gehen in der
Münchner und pariser extremsten Schule auf. Ahnlich in der Mufik.
paderewkis Heimat ist London, Amerika und sonst die Welt geworden.
Ioses Hofmann ist Abgott der petersburger und süllt unermüdlich den ko-
lossalen jlZrachtsaal der Adelsversammlung. Wann sieht und hört thn noch'
polen? Die Brüder Reszke gehören paris. Wanda Landowska, ekne be-
seligende Flucht in fern süße Zeiten, ein Hineinzirpen ins Herz und Hirn,
ein Gesundfingen mißhandelter Nerven, fand, gleich vielen polnischenHrin-
zessinnen, ihre lebenspendende Sonne tnHaris. Der GötterlieblingWaclaw
Nizinfti (in Europa unter der falschen Schrekbart Nkfinsky verehrt) hat
der ganzen Welt seinen Anbltck gegönnt, nur nicht polen. Die starke
Tänzerin und große Könnerin Matilda Krzesinska hält unentwegt zu
petersburg, erkennt als Freunde nur den Zar und den Großfürsten an.
Auch sie hat polen wohl nie gesehn. Dte große Tragödin Helena Modrze-

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