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Die jüdische Stadi

1. Skizzen aus dem Leben der Ostjuden

Von Hermann Struck

er feldgrau nach Rußland kam, hat manch Uberraschendes und Fremd-
^ ^ artiges wahrgenommen, und zu den Erscheinungen, dte den metsten
von uns zuerst am schwersten verständltch waren, gehört das tm Osten so
fest in setner Eigenart beharrende Volk der Iuden.

Dte tm Anfang mitunter zu Tage getretene Gertngschähung tst lm
Laufe des nun schon lange währenden Zusammenlebens elner verstänbnts-
vollen Achtung gewichen.

Auf der Strajze freklich, wo stch ntcht kmmer der beste Tetl der Bevölkerung
zeigt, sieht man häufig zerlumpte und elende Gestalten. Nimmtmansich aber
dieMühe, in dieHäusereinzudrtngen, so findet man dort Männer und F rauen,
Kinderund Gretse, die auf etnemungewöhnltch hohengeistigenNiveaustehen.

Dtese Menschen haben die geheiligten Tradttlonen thres Stammes tn
äußerer und Lnnerltcher Abgeschlofsenhelt voll be-
wahrt und rein erhalten, und sie vollbringen ihres
Lebens seltsamen Lauf in strenger Befolgung der
vor Iahrtausenden durch Mose ihren Vätern ver- l 8, < ()

kündeten Gesehe.

Nur ein Teil der Iuden polens und Lktauens
lebt vom Handel. Dte meksten von thnen sind
Handwerker, Tagelöhner, Lastträger und Fuhr-
leute oder betätigen sich als Geistliche und Lehrer.

Da dte drakonischen Maßnahmen ihres russi-
schen „Vaterlandes" sie kn die Städte zusümmen-
pferchen, so kann nur ein verschwtndender Teil von
ihnen als Bauer die Scholle bearbeiten.

Ein jeder von uns war überrascht, diese große
Zahl tüchttger Lastträger, Fuhrleute und Hand-
werker auf der Straße wahrzunehmen. Geht man
aber am Abend in ihre Bethäuser, so steigert sich
das Erstaunen, denn um den Tisch des talmud-
lehrenden Rabbkners findet man in dicht gedrängter
Schar die Fuhrlmte und Arbeiter versammelt,
die man vorher bei ihrem mühseligen Gewerbe be-
obachtete! Man vergißt den Staub und Schmuh,
der thre ärmltch zerlumpten Kleider bedeckt, wenn
man den Wissensdurst aus thren Augen leuchten
steht,- und hter beschletcht unsmanchmal das Gefühl, Typen

als ob wtr ln dtesen späten Nachkommen des uralten
Volkes verwunschene prinzen erblicken! So auch, wenn wkr am Freitag
Abend, durch dieFensterschauend, in jeder Behausung die Sabbatlichtesehen
und, durch ihr Leuchten etngeladen, eintretend den Herrn des Hauses, den
Vater der Famtlte, den am Ruhetage wahrhaft freien Mann begrüßen ...

*

Da lst pelsach, der alte Gepäckträger! Auch er war elnst ein Fuhrmann
mit ekgenem Wagen. Doch als der Großfürft Nikolajewitsch an eknem
Tage Z0000 Zuden ausKowno vertrieb, mußte xr alles tm Stkche lassen,
und bei der Heimreise mit setnem alten Weibe fand er nkchts, gar nkchts
mehr vor! Troh seiner ?Z Iahre ließ er den Mut nicht stnken und nahm
den Kampf mit dem grausamen Leben auf. Am Bahnhof sieht man ihn
vom Morgen bks zum Abend die schwersten Gepäckstücke schleppen,- plagt
thn auch der Hunger, wenn das »Stickel Drvit" gar zu klekn gewesen war,
so tst er doch ftohen Mutes und für eine Hfeife Tabak gibt er den Rest
setnes Lebens htn.

.Baruch, der Kommandant" war ln selner Iugend ein scharfsinntger
Talmudkst, bis er vom zu vtelen Studteren oder vom zu wentg Essen
„meschugge' wurde. Wie die meisten Iuden ln dlesen Städten hat
auch er einen Beinamen, den er seinem Bestreben verdankt, im Bet-
hause als Befehlshaber anerkannt zu werden! Das größte Ereignis
seines Lebens war, daß er elnmal als Zeuge nach petersburg geladen
wurde.

,Wie heißt du?" fragte der Richter.

.Baruch/

,Was bist du?'

,2ch btn der Kommandant von Kowno ft

Er wurde unvernommen nach Hause geschickt, und seln Leben fließt selt-
dem ln denselben stlllen Bahnen welter wie vorher.
*

Der Fischhändler hatte einen Stand auf dem

" ' Alarkt inne, bevor dke schlechten Zetten kamen.

Nun sammelt er tn seinem Korbe kleine Flsche etn
und verkauft sle, mit müden Knien von morgens
bis abends durch die Straßen schleichend.

*

Schmerl, den alten Maurer, traf ich in einem
Hause wacker tünchend an. -Er lst eln guter
Mekster" sagte mir jemand, »und hat früher an
manchem Tage 2 Rubel verdient." Ietzt muß
der Alte für die Enkel sorgen, deren Vater den
Rock des Zaren trägt.

*

Die -alte Krämerin hker kst keine Schönheit,
aber sie zetgt kn merkwürdigem Gegensah zu ihrem
Berufe — fie handelt mit Wagenschmiere — etnen
ausgeprägten Stnn für Sauberkeit! Denn als
der feldgraue Maler begtnnen wollte, ske zu zelch-
nen, deckte sie all ihre hundert Büchsen und Töpfe
fetn säuberlich mtt Zeitungspapier zu,- und fie war
nicht davon abzubringen: „Es sieht so unordent-
lich aus!"

Schorling *

Fast olle Droschkenkutscher ln Kowno find
Iuden, und man fährt mit khnen nkcht schlecht.

*

2n elner dunklen Hütte hämmert der hochgewachsene Schmked von
Koschedarp, und beim hellen Klange der Metalle schürft er mtt dem Ge-
sellen tn einer tiefgründtgen Talmudstelle, die vom Bau des Tempels zu
Ierusalem spricht.

*

In den Straßen und Anlagen der Städte treffen wir vkele schöne
Mädchen tn dunklem Haar, manche melancholisch und bleich, manche von
lhnen aber auch mit blttzenden Augen. Und harmlose Freundschaften haben
sich da entwickelt, beschützt durch die uralte strenge Tradition der Sitten.
Man geht wohl mal mkt diesen allzeit lustigen deutschen Soldaten ins
Kkno oder tns Theater, man lustwandelt mtt thnen in der schönen Um-
gegend, dann aber wtrd freundltch „Lebewohl" gesagt, und Iedes geht
nach Hause.

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