WINCKELMANNS KLEINE SCHRIFTEN
stellen, wie wir die Grazien gekleidet sehen möchten.
Man würde sie nicht in Galakleidern, sondern wie
eine Schönheit, die man liebte, im leichten Über-
wurf kürzlich aus dem Bette erhoben), zu sehen
wünschen.
In neueren Werken der Kunst scheint man, nach
Raffaels und dessen bester Schüler Zeiten, nicht ge-
dacht zu haben, daß die Grazie auch an der Klei-
dung teilnehmen könne, weil man, statt der leichten
Gewänder, die schweren gewählt, die gleichsam wie
Verhüllungen der Unfähigkeit das Schöne zu bilden,
anzusehen sind. Denn die Falten von großem Inhalt
überheben den Künstler der von den Alten gesuch-
ten Andeutung der Form des Körpers unter dem
Gewände, und eine Figur scheint öfters nur zum
Tragen gemacht zu sein. Bernini und Pietro di Cor-
tona sind in großen und schweren Gewändern die
Muster ihrer Nachfolger geworden. Wir kleiden uns
in leichte Zeuge, aber unsere Bilder genießen diesen
Vorteil nicht.
Wenn man geschichtmäßig von der Grazie nach
Wiederherstellung der Kunst reden sollte, so würde
es mehr auf das Gegenteil gehem)In der Bildhauerei
hat die Nachahmung eines einzigen großen Mannes,
des Michelangelo, die Künstler von dem Altertume
und von der Kenntnis der Grazie entfernt. Sein hoher
Verstand und seine große Wissenschaft wollte sich
in Nachahmung der Alten nicht allein einschränken,
und seine Einbildung war zu feurig zu zärtlichen
Empfindungen und zur lieblichen Grazie. Seine Ge-
dichte sind voll von Betrachtungen der hohen Schön-
162
stellen, wie wir die Grazien gekleidet sehen möchten.
Man würde sie nicht in Galakleidern, sondern wie
eine Schönheit, die man liebte, im leichten Über-
wurf kürzlich aus dem Bette erhoben), zu sehen
wünschen.
In neueren Werken der Kunst scheint man, nach
Raffaels und dessen bester Schüler Zeiten, nicht ge-
dacht zu haben, daß die Grazie auch an der Klei-
dung teilnehmen könne, weil man, statt der leichten
Gewänder, die schweren gewählt, die gleichsam wie
Verhüllungen der Unfähigkeit das Schöne zu bilden,
anzusehen sind. Denn die Falten von großem Inhalt
überheben den Künstler der von den Alten gesuch-
ten Andeutung der Form des Körpers unter dem
Gewände, und eine Figur scheint öfters nur zum
Tragen gemacht zu sein. Bernini und Pietro di Cor-
tona sind in großen und schweren Gewändern die
Muster ihrer Nachfolger geworden. Wir kleiden uns
in leichte Zeuge, aber unsere Bilder genießen diesen
Vorteil nicht.
Wenn man geschichtmäßig von der Grazie nach
Wiederherstellung der Kunst reden sollte, so würde
es mehr auf das Gegenteil gehem)In der Bildhauerei
hat die Nachahmung eines einzigen großen Mannes,
des Michelangelo, die Künstler von dem Altertume
und von der Kenntnis der Grazie entfernt. Sein hoher
Verstand und seine große Wissenschaft wollte sich
in Nachahmung der Alten nicht allein einschränken,
und seine Einbildung war zu feurig zu zärtlichen
Empfindungen und zur lieblichen Grazie. Seine Ge-
dichte sind voll von Betrachtungen der hohen Schön-
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