Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
WINCKELMANNS KLEINE SCHRIFTEN

machte Ausschweifung, sonderlich eine wie des alten
Redners Prodicus seine sogenannten von 50 Drach-
men (vid. Aristot. Rhetor. L. III). Man hat sogar
einen unter den griechischen Geschichtschreibern
getadelt, daß er keine Ausschweifungen gemacht; ein
Vorwurf, den man den heutigen Geschichtschreibern
nicht leicht machen wird. Ausschweifungen dienen
nicht allein zum Ausruhen; sie sind auch hier das-
jenige, was ein schönes Gleichnis in einem Gedichte
ist; ja sie sind im Vortrag der Geschichte dasjenige,
was gewisse Streifereien im Felde sind: sie bereichern
denselben, sie machen ihn mannigfaltig und all-
gemein.

Ist unser Feld an einigen Orten nicht reich genug an
Seltenheiten, so entlehne man etwas von dem griechi-
schen und römischen Boden, aus dem Vaterlande
großer Beispiele. Finden sich Seltenheiten, die fremd
scheinen, so lehre man, daß zu allen Zeiten die Natur
und ihre Kinder von der gewöhnlichen und betretenen
Bahn abgewichen, etwas Großes hervorzubringen.
Die großen Unternehmungen und Staatsabsichten
der Prinzen neuerer Zeiten sind oftmals weniger
durch sich selbst, als durch Beispiele zu erklären und
zu richten. Die älteren werden uns in den neueren
überzeugen, daß die Staatskunst sich fast allezeit aus
einer unglücklichen und kläglichen Notwendigkeit
über die Moral erhoben. Diese Vergleichungen wer-
den uns zugleich zeigen, daß die neuere Welt nicht
böser und daß unsere Zeiten nicht durchgehends
schlechter sind.

256
 
Annotationen