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Winckelmann, Johann Joachim; Borbein, Adolf Heinrich [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [Hrsg.]; Deutsches Archäologisches Institut [Hrsg.]; Winckelmann-Gesellschaft [Hrsg.]; Balensiefen, Lilian [Mitarb.]
Schriften und Nachlaß (Band 6,2): Monumenti antichi inediti spiegati ed illustrati: Roma 1767; Kommentar — [Darmstadt]: von Zabern, 2014

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Volume Primo: A sua Emmineza, Indicazione. Prefazione, Trattato preliminare. Kommentar
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https://doi.org/10.11588/diglit.58930#0079
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Trattato premiliare [vorläufige Abhandlung] · Kommentar

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durch welche allein die Meister in den schönen Künsten zu den herrlichsten Bestrebungen veranlaßt wurden, der Vortheil und die
Nacheiferung. Kurz der Künstler konnte keinen Schritt thun, welcher dessen eigener heißen konnte, und so war auch nichts für ihn
zu hoffen. Hieraus folgte, daßalle sowohlfrühere als spätere Kunstwerke nach Einerfestgesetzuten Form und Maaß, und alle, wie die
Chinesischen Gemählde, aus einer einzigen Schule hervorgegangen zu seyn scheinen. [20]
$. 7. Hierzu kommt noch, daß es ihnen an einem zur Kunst der Zeichnung wesentlichsten Stücke, nämlich an Kenntniß in der
Anatomie fehlte, welche Wissenschaft durch den Eigensinn und die zu große Ehrfurcht gegen die Verstorbenen in Aegypten gänzlich
verboten war. Daher wurde nicht nur keine Zergliederung todter Körper angestellt, sondern es mußte auch der Paraschistes, oder
derjenige, welcher der Sitte gemäß die Körper, um die Eingeweide heraus zu ziehen, zum Balsamieren durch einen einzigen Schnitt
in der Seite öffnete, unmittelbar nach dieser Verrichtung plötzlich davonlaufen, um sein Leben vor den Verwandten des Verstorbenen
zu retten, welche ihn auf alle Weise verfolgten.
Zwey Epochen oder Style in der Aegyptischen Kunst. Der erste Styl bis zur Abschaffung der alten Staats-Verfassung.
§. 8. Nachdem ich die Ursachen kurz auseinander gesetzt, warum die Kunst der Zeichnung sich bey den Aegyptiern nicht zu dem
Grade von Vollkommenheit erheben konnte, den sie hätte erlangen sollen, da sie von ihnen so viele Jahrhunderte hindurch geübt wor-
den: muß ich den Zustand, worin sie stehen blieb, genau bestimmen. Zuvörderst muß man zwey oder vielleicht gar drey verschiedene
Zeiten setzen. Die erste Zeit wird gedauert haben während der uralten Verfassung in Aegypten, bey welcher sich der ursprüngliche
Styl in seiner ganzen Reinheit, wie ihn die Gesetze vorschrieben, erhielt. Die zwote Zeit dauerte während der durch die Grie- [21]
chen erfolgten Eroberung Aegyptens, wo zuerst nach meiner Meynung dieser alte Styl einige Veränderung erlitt; und endlich die dritte,
welche man kaum den Aegyptiern zurechnen kann, bezieht sich auf das Vergnügen, welches einige in Rom unter den Kaysern und
namentlich unter dem Hadrianus darin suchten, einige Bildwerke nach Aegyptischer Weise zu verfertigen.
Eigenschaften des älteren Styls. Im Allgemeinen. Bey den Figuren in menschlicher Gestalt.
$. 9. Nachdem wir diese Zeiten also unterschieden, ist es gut, wenn wir in Hinsicht der ersten, welche die rein Aegyptische Kunst
umfaßt, die allgemeinen Eigenschaften dieses ursprünglichen Styls ebenfalls von dem absondern, was demselben insbesondere zukommt.
Die allgemeine Eigenschaft desselben oder die Wissenschaft, welche jene Künstler von der Zeichnung hatten, besteht, wie ich schon
angemerkt, in geradlinigen, oder doch von der geraden Linie nur wenig abweichenden Umrissen ihrer Figuren, so daß es vergeblich
seyn würde, nach Beschaffenheit der Haltung oder Stellung an diesen Figuren, die Muskeln, Adern oder Falten der Haut (wntrazioni)
aufzusuchen. Welche Verschiedenheiten daher auch die einzelnen Götter-Bilder haben mogten, um die eine Gottheit von der andern
zu unterscheiden, nehmen wir dennoch keinen Anstand zu behaupten, daß sie alle einförmig waren, weil man in der Wissenschaft
der Zeichnung nicht [22] weiter gekommen war, die wir einzig und allein hier betrachten.
In der Zeichnung des Nackten und der Stellung.
§. 10. Wir wollen gleichwohl die Stellungen beschreiben, um zu sehen, mit welcher Aengstlichkeit sie gemacht waren. Diese Figuren
sind entweder stehend, oder sitzend, oder knieend; alle mit dem Rücken gegen einen Pfeiler gelehnt. Die stehenden Figuren, sie mögen
männlichen oder weiblichen Geschlechts seyn, machen, wenn nicht beyde Arme gerade an den Seiten herunterhängen, mit dem einen
oder dem andern weiter keine Bewegung, als um etwa die Hand vorn an die Brust hinzubringen. Alle stehenden männlichen Figuren
hatten die Arme fest an den Seiten angeschlossen, so wie auch unter den weiblichen gerade aufgerichtet stehenden Figuren jene zwey,
welche an dem Stuhle der berühmten Memnons-Säule vorgestellt sind; die andern weiblichen Figuren, welche stehen, pflegen eine
Hand gebogen aufder Brust zu haben. Ferner stehen die Füße parallel, aber nicht alle beyde auf einer und derselben Linie; einer
stehet voraus vor dem andern; aber der hinterwärts stehende ward, weil er in der Ansicht durch das Zurückweichen kürzer erschienen
wäre, etwas länger gehalten. Eben diese Ausgleichung wurde auch von einigen Griechischen Bildhauern angewandt; wenigstens sieht
man es so an den Füßen des Vaticanischen Apollo. Die sitzenden Fi- [23] guren haben die Füße in paralleler Linie, ihre Arme an den
Seiten fest angedrückt, und die Hände liegen platt auf den Schenkeln. Die knieenden Figuren endlich halten, wenn man dies etwa
für Handlung und Bewegung annehmen will, ein Kästchen mit kleinen Götter-Bildern in den Händen.
In der Bekleidung der weiblichen Figuren.
$. 11. Die Bekleidung betreffend, so haben alle weiblichen Statuen zwar Gewänder, aber gewöhnlich nur wie aus einem sehr dünnen
Schleyer ohne irgend eine Falte, und dem Nackten so angeschmiegt, daß man sie gar nicht bemerken würde, wenn man nicht bey
Betrachtung des Halses und der Beine einen kleinen vorspringenden Rand gewahrte, welcher das obere und untere Ende eines solchen
Gewandes andeutete. Um die Brüste, welche, wie ich schon angemerkt habe, diese Künstler sehr voll bildeten, faltete das Gewand
 
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