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Windelband, Wilhelm
Über Sinn und Wert des Phänomenalismus: Festrede — Heidelberg, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.20723#0005
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Hochansehnliche Festversammlung!

An dem offensichtlichen Umschwung, den die Philosophie
während der letzten Jahrzehnte erfahren hat, darf als das all-
gemein Bedeutsame bezeichnet werden, daß die lange Zeit herr-
schende Einschränkimg auf Erkenntnistheorie aufgegeben und
die Behandlung der großen sachlichen Probleme, die das eigent-
lich philosophische Interesse für sich haben, auf der ganzen
Linie zurückgewonnen worden ist. Das ist nicht, wie wohl
außen Siehende meinen, ein Abfall von Kant, sondern höchstens
vom Kantianismus oder Neukantianismus: es ist in Wahrheit,
eine Berichtigung der einseitigen Auffassung des Kantischen Kri-
tizismus, die in der Neubildung der Philosophie seit der Mitte
des vorigen Jahrhunderts eine geschichtlich notwendige Zwischen-
stufe gewesen, ist, bei der aber die lebendig fortschreitende Ent-
wicklung nicht stehen bleiben konnte. Denn eine sich von allen
inhaltlichen Problemen ausschließende Erkenntnistheorie, die
keine tieferen philosophischen Wurzeln hat, ist immer in Gefahr,
auf die Dauer entweder zu einer schematischen Methodologie
oder gar nur zu einer psychologischen Entwicklungsgeschichte
der Vorstellungen zu verdorren: ihr natürliches Ende ist der
Relativismus, der sich heute Pragmatismus nennt.

Jene Meinung aber, Philosophie könne oder dürfe nichts
anderes sein als Erkenntnistheorie, wurde in Kants Lehre zu
der Zeit hineingedeutet, als die Philosophie aus der Mißachtung,
in welche sie durch den Niedergang der großen metaphysischen
Systeme verfallen war, zu einem bescheidenen Neuanfang an
der Hand der Naturwissenschaft zu gelangen suchte: und die
bedeutenden Naturforscher, die sich als Kantianer fühlten und
bekannten, verstanden begreiflicherweise dies Verhältnis so, daß
eine solche Erkenntnistheorie in der Hauptsache die Theorie
ihrer Erkenntnis sein sollte. Auch fehlte es in der kritischen

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